Das muss man sich erst mal leisten können: Die irische Band U2 geht mit ihrem Uralt-Album „Joshua Tree“ auf Tour. Aber der einzige Deutschland-Auftritt der Superstars in Berlin hat gezeigt: Diese Klassiker haben es immer noch in sich.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

Berlin - Nun kann man die Idee natürlich sehr langweilig finden, eigens eine Nordamerika- und Europatournee anzusetzen, nur um ein ganzes Album komplett nachzuspielen. Ein Album zumal, das bereits dreißig Jahre alt ist. Bedenkt man dazu noch, dass für diese Tour ausnahmslos die größten Fußballstadien in den größten Metropolen ausgesucht worden sind, könnte das Ganze sogar einen Anstrich von Größenwahn bekommen. Selbst wenn die Band U2 heißt und es sich bei dem Album „The Joshua Tree“, zu dessen Geburtstagsfeier jetzt gereist wird, um ihr in vieler Menschen Augen bestes, mit weltweit rund zwanzig Millionen verkauften Exemplaren definitiv jedoch kommerziell erfolgreichstes Werk handelt.

 

Aber es funktioniert. Mit über siebzigtausend Zuschauern ist das Berliner Olympiastadion zum einzigen Deutschlandkonzert der Band ausverkauft. Und den gelungenen inhaltlichen Kniff, um einen solchen Abend nicht in die Ödnis zu führen, den haben die vier Herren auch dabei. Quasi zum Aufwärmen kommt die Band der Reihe nach in einer Art Gänsemarsch über einen Steg auf eine vorgelagerte Minibühne spaziert. Der Schlagzeuger Larry Mullen drischt einen längst in das ewige Rockgedächtnis eingebrannten Marschtrommelrhythmus in seine Snare-Drum, der Gitarrist David Howell „The Edge“ Evans stimmt dazu die längst ebenfalls unvergesslich gewordene zweitbeste Gitarrenmelodie an, die ihm jemals eingefallen ist, der Sänger Bono schmettert die Eingangszeile „I can’t believe the News today“… und richtig geraten: es erklingt „Sunday Bloody Sunday“, der vielleicht oder wahrscheinlich bekanntesten Hit von U2. Klare Ansage, gleich zum Konzertauftakt. Als zweites Stück – wer hat, der hat – kommt der vielleicht oder wahrscheinlich zweitbekannteste Hit von U2, „New Year’s Day“. Es folgen „Bad“ und, um das Quartett vollzumachen, „Pride (in the Name of Love)“. Die vier Riesenhits aus der Frühzeit der Band serviert sie zum Auftakt, dass das Publikum schon jetzt aus dem Häuschen ist, versteht sich von selbst.

Kaum mal eine Atempause

Des Weiteren ist der Vorteil nicht zu unterschätzen, dass das Album „The Joshua Tree“, das die auf die Hauptbühne gewechselte Band tatsächlich komplett und mit allen elf Songs in der Originalreihenfolge durchspielt, gleich mit drei weiteren Riesenhits losgeht. „Where the Streets have no Name“, „I still haven’t found what I’m looking for“ und „With or without you“ (mit der laut The Edge besten Gitarrenmelodie, die ihm jemals eingefallen ist) heißen sie, ein jeder kennt sie, die Spannung bleibt so enorm hoch.

Über eine halbe Stunde ist danach erst rum, und die Band hat noch nichts anderes getan, als ausschließlich erlesene Rockklassiker von Weltrang zu spielen, die allesamt aus ihrer Feder stammen. Was für ein Fundus. Erst bei „Bullet in the Blue Sky“ gibt es dann so etwas wie eine Atempause; Zeit, den staunenswert transparenten Sound in der Riesenschüssel zu würdigen oder die aus über tausend Einzelbildschirmen zusammengefügte sechzig Meter breite und vierzehn Meter hohe Cinemascope-High-Resolution-Leinwand, die bestechende optische Qualität liefert und längst nicht nur zum Vergrößern der Musiker dient, sondern eminente Inhalte liefert. Wie jetzt zum Beispiel zu „Bullet in the Sky“, diesem vielleicht politischsten Lied aus dem gesamten U2-Repertoire, das zur Abwechslung mal kein Großhit ist. Jetzt erst wird sie einem richtig bewusst, die beeindruckend starke inhaltliche Ausrichtung, das vorzügliche Songwriting und die glänzende Produktion des „Joshua-Tree“-Albums durch Daniel Lanois und Brian Eno.

Hits ohne Ende

Mit „Mothers of the Dissappeared“ wäre das Album schließlich durchgespielt und zusammen mit den Eingangskrachern nebst den vielen Worten des Wanderpredigers Bono eine durchschnittliche Konzertlänge absolviert. Und was machen wir nun mit dem angebrochenen Abend? Wenn wir schon mal da sind, haben sich die Bandmitglieder gedacht, können wir ja, als Zugabe getarnt, noch einen dritten Teil drankleben. Gedacht, getan: in ihm werden nun, da es ja ohnehin kein aktuelles Album vorzustellen gilt, die verbliebenen Hits abgefeiert. „Miss Sarajevo“, „Beautiful Day“ und „Vertigo“ zum Beispiel, ehe das Konzert mit einer fein gespielten Interpretation des letzten Klassikers „One“ verklingt.

Petrus haut den Steuermann vom Ruder

Satt nach 23 Uhr ist es am Ende dieses langen Abends. Sie hätten theoretisch auch noch „I will follow“, „Gloria“, „Desire“ oder „Discothèque“ spielen können. Aber irgendwann haut Petrus selbst den stärksten Steuermann vom Ruder, denn fast den ganzen Abend über regnet es in Strömen. Deshalb geht das Sonderlob zwingend an den Bassisten Adam Clayton, der fast das ganze Konzert nur im dünnen Hemd und ohne Kopfbedeckung durchspielt. Wie so etwas mit einem elektrischen Instrument in der Hand technisch überhaupt gelingt, müsste man vielleicht The Edge fragen, den begossenen Pudel mit der Mütze an der E-Gitarre. Oder besser noch den Bühnendesigner, der eine prachtvoll illuminierte Videowand von noch nie gesehenen Ausmaßen ins Stadion gestellt, aber der Band kein Dach überm Kopf gegönnt hat.

Ein Cowboy namens Trump

Wahrscheinlich war das Bonos Idee, der sich solidarisch mit dem schon seit Stunden vollgeregneten Publikum auf den Stehplätzen im Innenraum zeigen wollte. Denn feucht geht es bei diesem Abend zu, feuchtfröhlich aber mitnichten. Die traumhaft schönen Landschaftsbilder von den Weiten Amerikas, die der U2-Leibfotograf Anton Corbijn eigens für die Tour nochmals in Bewegtbildern nachgefilmt hat, sind nur ein Teil der Videochoreografie. Der andere sind Szenen aus Flüchtlingscamps, von Soldaten, einem historischen Schwarz-Weiß-Western, in dem ein Cowboy, der zufällig auf den Namen Trump hört, als Lügner gebrandmarkt wird. Die entsprechenden mahnenden Worte liefert Bono dazu, der sich ausufernd und fast bis zum Überdruss noch immer als größter Moralist des gesamten Showbusiness geriert. Er hat, fraglos, mit allem was er sagt Recht – aber mit Gebetsmühlen allein hat bisher noch niemand die Welt verbessert.

Als letzter kleiner Wermutstropfen dieses tropfenreichen Abends wäre schließlich noch die Rolle zu nennen, die Noel Gallagher zugewiesen worden ist. Er, der einst selbst Stadien füllte, darf mit seiner Band High Flying Birds das Vorprogramm bestreiten, in dem er eine karge Dreiviertelstunde lang einen schlechten Sound hingemischt bekommt und dazu griesgrämig ein Oasis-Best-of-Programm herunterspielt. Die fast schon einschüchternde exklusive Gigantomanie dieser Tournee hingegen, bei der die nach wie vor enorm gefragte Band nur in acht europäischen Stadien auftritt, ist U2 nicht anzukreiden. „Thank you for still being here“, ruft Bono irgendwann von der Bühne, diese Wehmut beruht eindeutig auf Gegenseitigkeit. Aus Neugier ist gewiss niemand gekommen, es ist Nostalgie. Und die wiederum kann man schwerlich imposanter befriedigen, als die Band U2 es bei diesem Auftritt getan hat.