Aljona Savchenko erfüllt sich mit Bruno Massot ihren größten Traum: Olympia-Gold im Paarlauf. Mit einer wundervollen Kür, die Zuschauer zu Tränen rührte.

Sport: Jürgen Kemmner (jük)

Pyeongchang - Crying corner nennen sie das Plätzchen. Die Tränenecke. Dort sitzen die Eiskunstläufer und warten auf das Urteil der Richter. Und weil auf diesen Sofas nach der Verkündung häufig Tränen fließen, ob vor Freude oder aus Ärger spielt keine Rolle, hat dieser Platz diesen Namen verpasst bekommen.

 

Am frühen Nachmittag des 15. Februar 2018 war die gesamte Gangneung Ice Arena eine Tränenecke. Aljona Savchenko weinte. Ihr Partner Bruno Massot weinte. Trainer Alexander König weinte. Der deutschen Eiskunstlauf-Königin Katharina Wittstanden im Vip-Bereich die Tränen in den Augen: „Wunderbar!“ Zahlreiche Zuschauer hatten feuchte Augen, selbst hartgesottene Reporter, die nicht mehr zählen, von wie vielen wichtigen Eiskunstlauf-Wettbewerben sie berichtet haben, konnten ihre Rührung nicht mehr kontrollieren.

Tränen der Freude.

Wenige Augenblicke zuvor hatten die Juroren entschieden, das deutsche Paar zum Olympiasieger zu küren. Nachdem die gebürtige Ukrainerin und der erst zum Jahreswechsel nach Deutschland eingebürgerte Franzose für ihre künstlerisch grandios präsentierte und mit Höchstschwierigkeiten garnierte Kür „La terre vue du ciel“ (Die Erde vom Himmel aus gesehen) die Weltrekord-Punktzahl von 159,31 erhalten hatten, mussten die beiden etwa 20 Minuten zittern und die drei Paare, die nach dem Kurzprogramm vor ihnen lagen, abwarten – dann stand fest: Ihre Präsentation war ohne jeden Zweifel goldwürdig.

Emotionaler Ausnahmezustand

„Das war die Kür meines Lebens“, sagte Aljona Savchenko, eine Stunde später in den Katakomben und blickte versonnen in die Gesichter der Journalisten. Und sie begann zu schluchzen. Diese Emotionen, die ihren gesamten Körper in einen nie gekannten Ausnahmezustand versetzten, mussten sich entladen. Bruno Massot eilte ihr zu Hilfe, drückte sie ganz fest an sich. „Hat ihr jemand gesagt, dass sie Olympiasiegerin ist?“, fragte der 29-Jährige gespielt vorwurfsvoll. „Das passiert nämlich immer, wenn jemand ihr das sagt.“

Aljona Savchenko, mittlerweile mit 34 Jahren im Spätsommer des Eiskunstläufer-Lebens, wird sich schnell an dieses Gefühl gewöhnen. „Manche benötigen einen Anlauf für den Olympiasieg, ich habe fünf gebraucht“, sagte die fünfmalige Weltmeisterin. „Das ist mein Moment. 2018 ist mein Jahr! Ich bin total glücklich.“ Dann begann sie, sich Tränen aus dem Gesicht zu wischen, was nicht nötig gewesen wäre – die Schminke war längst davongelaufen.

An diesem Donnerstag war die Eiskunstläuferin in ihrer persönlichen Endstation Sehnsucht angekommen. Sie war dort, wo sie seit ihren Anfängen auf dem Eis hin wollte; wofür sie gekämpft hatte, gestritten, gezickt und gebetet. All die schlimmen Begleiterscheinungen ihrer mit größter Disziplin durchgepeitschten Karriere waren abgearbeitet, abgehakt. Die Albträume der Olympia-Auftritte 2014 und 2010, wo sie als Favoritin mit Robin Szolkowy jeweils bei Bronze gestrandet war, all das war endlich verscheucht. „Ich habe im Moment nur noch positive Gedanken, wirklich nichts Böses“, sagte der nur 46 Kilogramm schwere Eiskunstlauf-Star.

Zermürbende Stunden

Es waren zermürbende Stunden zwischen dem Kurzprogramm am Mittwoch, wo Bruno Massot den Salchow nur zweifach statt dreifach sprang und die Deutschen nur bis Platz vier katapultierte. Doch der Mann aus Caen riss sich zusammen, er ließ die Dunkelheit nicht in sein Herz und ergab sich nicht dem angedeuteten Schicksal. „Es war ein harter Tag nach dem Fehler, ich habe mir immer wieder gesagt: Es ist noch nicht vorbei“, sagte Massot. Die Winzigkeit von 0,43 Punkten machte den Unterschied zwischen Gold und Silber, zwischen Savchenko/Massot und den Chinesen Sui Wejing/Han Cong. Massot, der Kerl aus der Normandie, hätte sich 2014 nicht träumen lassen, dass er einmal mit einer deutschen Fahne über den Schultern übers Eis gleiten würde, genauso wenig dürfte er beim TV-Schauen der Eiskunstlauf-Entscheidung von Sotschi daran gedacht haben, die Nachfolge des Paares Tatjana Wolossoschar/Maxim Trankow anzutreten. Als er mit Aljona Savchenko die Kür beendet hatte, als er wusste, dass er nicht nur alles richtig, sondern alle Sprünge und Hebefiguren sogar exzellent dargeboten hatte, da kniete er nieder zu seiner Partnerin aufs Eis und umarmte sie. Er hatte seinen Fehler ausgebügelt. Er hatte getan, was er tun konnte.

In diesem Moment dämmerte es Alexander König, dass es doch etwas werden könnte mit Gold. Der Trainer hatte die Kür an der Bande verfolgt; nein, er hatte sie mitgetanzt im Geiste. Mit geschlossenen Augen wogte der Körper des einstigen Paarläufers hin und her als müsse er als Dirigent seinen Solisten die Einsätze vorgeben, als müsse er vorführen, wie der künstlerische Ausdruck zu sein habe. „Das hat sich doch gelohnt, ich habe meine Power aufs Eis übertragen“, sagte der 51-Jährige. Danach begann das Warten, aus Blech wurde Gold. „Die 159,31 Punkte waren ein Signal der Juroren“, sagte König. Es lautete: Wenn die anderen drei Paare nicht ebenfalls Außerordentliches leisten, heißen die Sieger Savchenko und Massot – die Konkurrenz war weit entfernt von der Extraklasse der Deutschen. „Das war ganz nahe an der Perfektion“, sagte Alexander König, nachdem er seine Gefühle wieder eingefangen und sortiert hatte. „Und wenn ein Trainer das sagt, soll es etwas heißen.“

Thomas Bach hatte andere wichtige Termine

Ob Thomas Bach nach dieser Kür Tränen in den Augen hatte, war nicht zu erkennen. Der Chef des IOC hatte die Ice Arena bereits verlassen, als die Paare für ihre Leistungen geehrt wurden. Bach hätte einem historischen Augenblick beiwohnen können, wohl hatte er andere wichtige Termine. Savchenko/Massot gewannen nach 66 Jahren wieder Gold im Paarlauf für Deutschland, das war dem Ehepaar Ria und Paul Falk 1952 in Oslo gelungen.

Als die Gewinner bei der Siegerzeremonie aufgerufen wurden, packte Massot Savchenko an den Hüften und hob sie ehrfurchtsvoll aufs Podium, nach ganz oben, wo nur Olympiasieger stehen. Für Aljona Savchenko muss sich dieses Podest angefühlt haben wie der Eiskunstlauf-Himmel.

Nach der Kür ihres Lebens.