Die Regisseurin Friederike Heller bemüht sich im Stuttgarter Kammertheater um „Wolken.Heim.“ von Elfriede Jelinek, ein Stück über Nationalismus und Fremdenhass. Aber taugt die Inszenierung als Kommentar zur Europa-Wahl?

Stuttgart - Figuren, Dialoge, Handlung: Fehlanzeige. Elfriede Jelinek verzichtet darauf. Ihren Dramen verwehrt sie alles Dramatische, um stattdessen einfach drauflos zu schreiben, ohne dabei Regisseure und Bühnenbildner mit Szenenanweisungen zu quälen und die wuchernde Prosa autoritär auf Sprecher zu verteilen. Macht mit dem Ding, was ihr wollt, ruft sie den Theatern zu, meine Arbeit ist getan – und also gehen Theaterleute mit viel Liebesmüh ans Werk, um die sich auf Textflächen diffus ausbreitenden Assoziationsströme zu entdecken, zu bändigen, zu sortieren, zu deuten und für die Bühne zu gestalten. Puuh! Was macht man nicht alles für eine Literatur-Nobelpreisträgerin! Und erst recht für die gute Sache, die sie mit ihrem Schreiben verfolgt!

 

Daran, an der guten Sache, besteht kein Zweifel. Schon immer hat sich die 1946 in der Steiermark geborene Jelinek mit gesellschaftlichen Misständen auseinandergesetzt. Als radikal-feministische Autorin geißelte sie die Unterdrückung der Frauen ebenso wie die kapitalistischen Strukturen, die diese Unterdrückung befördern. Sie schrieb gegen die Verdrängung der Nazi-Verbrechen an, rief zu einer humanen Flüchtlingspolitik auf und attackierte Autokraten wie Trump und Erdogan. Dass es ihr nach dem Ibiza-Video, das die FPÖ aus der Wiener Regierung katapultierte, in den Fingern juckt, steht zu vermuten, denn als „Blume im Knopfloch Österreichs“ – das sagte sie nach der schwedischen Nobilitierung 2004 – wollte sie sich nie vereinnahmen lassen. Und nun also: „Wolken.Heim.“ im Stuttgarter Kammertheater.

Die Suche nach dem Gegengift

Uraufgeführt wurde das Stück 1988 in Bonn. Seitdem sind drei Jahrzehnte vergangen, in denen die darin verhandelten Themen nichts von ihrer Brisanz verloren haben. Im Gegenteil: Jelinek untersucht Nationalismus und Fremdenhass, indem sie in die deutsche Geschichte eintaucht und die Blutspur gemütvoll-mörderischer Geisteshaltungen bis in die Gegenwart verfolgt. Das ist aktueller denn je, weshalb der Intendant Burkhard Kosminski im Vorfeld der Aufführung meinte, die Inszenierung sei ein Kommentar zur Europa-Wahl – und die Regisseurin Friederike Heller im Programmheft gesprächsweise hinzufügt, „dass aggressives nationales Gedankengut heute nicht nur salonfähig, sondern richtig weit verbreitet“ sei. Das erschrecke sie. Und das erschreckt viele andere auch, aber die Frage bleibt dann trotzdem, ob das äußerst unübersichtlich eingerichtete „Wolken.Heim“, ungeachtet aller guten Absichten, ein taugliches Gegengift ist.

Im Kammertheater bleibt das Saallicht zunächst an. Auf der Bühne von Sabine Kohlstedt ragt eine Spiegelwand empor, die das Publikum mit sich selbst konfrontiert. Wir sehen uns beim Zuschauen zu – und dass es ums „Wir“ geht, macht die an der Rampe postierte Josephine Köhler klar. Diktion und Duktus präzise wie immer, arbeitet sich die Schauspielerin mit wechselnden Posen durch mäandernde Jelinek-Sätze. Rührend naiv, wild entschlossen und girliehaft Kaugummi kauend erreicht sie ihr chauvinistisches Ziel: „Wir Deutsche müssen endlich einmal ein lauterer Laut werden dürfen. Wir müssen einmal auch für uns offen sein dürfen, damit wir uns von innen sehen können, dann wird man sehen, was in uns steckt“, sagt sie, bevor das Licht erlöscht und der Spiegel, der uns Zuschauer aufs Deutsch-Sein zurückgeworfen hat, durchsichtig wird fürs dahinter liegende Innere: drei Glaskuben, rückwärts abgeschlossen mit Maschendraht, bewohnt von Christiane Roßbach, Therese Dörr und Celina Rongen.

Die Frauen geben jetzt Laut – und die Reise in die deutsche Seele startet. Mit sphärisch dräuender Elektromusik führt sie drei Generationen zurück, zu Roßbach mit Lockenwickler in die fünfziger, zu Dörr im Flowerpowerkleid in die siebziger, zu Rongen mit Mikrowelle und Computer in die nuller Jahre. Bewegung kommt ins Setting, weil Köhler die Kuben – ein Mix aus Vitrine, Käfig und Zelle, aus Museum, Zoo und Knast – mit Schmackes auf der Bühne hin- und herschiebt und für neue Arrangements sorgt. Hintergründig kümmert sie sich aber noch um etwas anderes. Wie die Zellenkäfige bringt sie auch den Jelinek-Text ihrer Kolleginnen ins Fließen, zurück zu den Quellen allen Übels, zu Epochen deutschen Geisteslebens, zu Romantik, Idealismus, Nihilismus – und das Land der Dichter und Denker verkehrt sich in ein Land der Richter und Henker.

Nebulöse Zettelkastenorgie

Als Kronzeugen für ihre Beweisführung ruft Jelinek nicht nur sich selbst wortspielerisch auf, sondern – unter anderem – die Dichter Hölderlin und Kleist sowie die Philosophen Fichte, Hegel, Nietzsche und Heidegger. Kenntlich macht sie die miteinander verkleisterten, auch sinnverkehrt eingesetzten Zitate nicht, da müssen Philologen ran – anders als bei den Fragmenten aus RAF-Texten und in Stuttgart eigens hinzugefügten AfD-Programmen, die von aufgeweckten Zeitgenossen womöglich korrekt zugeordnet werden können. Ein kluger Kopf meinte, Jelinek lasse in „Wolken.Heim.“ – schon der Titel verbackt die Wörter – ihre Fundstücke in einen „faschistoiden Einheitsdiskurs“ münden. Hm, irgendwie ist das wohl so, auch im Kammertheater, wo sich die Damen engagiert durch die musikalisch rhythmisierte Inszenierung turnen, dabei keifen, schwärmen und raunen, Märchenfiguren anspielen und das „Wir“ beschwören, das sich vor „Fremden“ und „Negern“ schützen muss. Aber das jelineksche, alles Soziale ausklammernde Irgendwie ist dann doch viel zu verwaschen, um politisch wirksam zu werden – daran kann auch die bemühte Regie von Friederike Heller nichts ändern.

„Wolken.Heim.“ als Kommentar zur Europa-Wahl? Diese nebulöse Zettelkastenorgie als Statement? Burkhard Kosminski hat im Stuttgarter Schauspiel einen tollen Start hingelegt, mit einer Serie von Aufführungen, über die man – so oder so – ins Gespräch kommen konnte. Die achtzig Jelinek-Minuten im Kammertheater gehören eher nicht dazu. Sie lassen den Zuschauer ratlos zurück.