Die Stuttgarter Autorin Elisabeth Kabatek begleitet die Reid-Anderson-Festwoche beim Stuttgarter Ballett mit einer Kolumne. Start war am Freitag im Kino, wo John Crankos „Romeo und Julia“ richtig groß rauskamen.

Stuttgart - Nun geht es also endlich los. Festwoche „A Reid Anderson Celebration“! Anders als vor zwei Jahren, als 20 Jahre Intendanz von Reid Anderson begangen wurden, wird am Ende ein Abschied stehen. Aber daran wollen wir jetzt erst einmal nicht denken, nicht an die Wehmut und nicht an die Tränen, die ganz sicher fließen werden. Erst einmal wird gefeiert – zehn Tage Ballettfieber in Stuttgart! Jeden Tag wird die Temperatur ein klein wenig ansteigen, bis zum großen Finale, bis zur großen Gala mit Ballett im Park, über die niemand vom Ballett auch nur ein Sterbenswörtchen nach außen dringen lässt. Es soll schließlich eine Überraschung sein, fürs Publikum natürlich, vor allem aber für den scheidenden Intendanten!

 

Doch der erste Abend der Festwoche ist in jeder Hinsicht eine Überraschung. Im Metropolkino wird die Aufzeichnung von John Crankos „Romeo und Julia“ gezeigt, und niemand, wirklich niemand vom Stuttgarter Ballett hat den Film bisher gesehen, weder Elisa Badenes in der Rolle der Julia, noch David Moore, der den Romeo tanzt, nicht einmal Reid Anderson selbst! So ist der Abend nicht nur eine echte Premiere für die Festwochengäste – der Film läuft exklusiv als Preview und dann am 22. Juli bundesweit in den Kinos –, sondern auch für die Tänzerinnen und Tänzer, die ganz aufgeregt ins Foyer des Kinos strömen und sich auf dem roten Teppich ablichten lassen. Man umarmt und herzt sich, es geht zu wie im Taubenschlag. Die Tänzerinnen haben sich alle sehr schick gemacht, wann sieht man sie schon mal in luftigen Sommerkleidchen und mit High Heels, die Tänzer sind eher sportlich-leger.

Die Tänzerin lacht und greift in den Popcornbecher

Reid Anderson kommt mit einem Eis in der Hand herbeigeschlendert, offensichtlich bester Laune und sehr entspannt, auch die Grande Dame der Choreologie Georgette Tsinguirides lässt sich den Abend nicht entgehen, und natürlich ist auch der Nachfolger Tamas Detrich da. Es dauert eine ganze Weile, bis alle im Kinosaal auf ihren Plätzen sitzen, was auch daran liegt, dass sich nahezu alle Tänzerinnen und Tänzer mit Cola und Popcorn eindecken. Nicht etwa mit kleinen Bechern, nein, mit ziemlich großen. Um mich herum schwirren nicht nur die Sprachen dieser internationalen Kompanie, Englisch, Italienisch, Spanisch, Brasilianisch, es knuspert auch ziemlich laut. Wie das eben normal ist im Kino, bloß, bei Tänzern denkt man eben immer, dass die nur an Salatblättern nagen, damit sie schön schlank und leicht bleiben. „Stimmt nicht“, sagt Sinéad Brodd vom Corps de ballet, die neben mir sitzt, lacht und greift wie zur Bekräftigung in ihren Popcornbecher. „Die Leute denken immer, wir würden nichts essen. Dabei lieben wir Essen! Wir verbrauchen ja auch wahnsinnig viel Energie.“

Bevor der Film nun tatsächlich losgeht, stehen noch die Filmemacher auf der Bühne. Reid Anderson bedankt sich bei der Produktionsfirma Unitel und bei Prof. Dr. Joachim Lang vom SWR. Jahrelang hegte der Intendant den Wunsch, „Romeo und Julia“, „Onegin“ und „Der Widerspenstigen Zähmung“ aufzeichnen zu lassen, und dann kam Lang genau mit diesem Vorschlag auf ihn zu. „Kunstwerke zu erhalten und zu konservieren und sie so der Vergänglichkeit zu entreißen“, das sei sein Ziel gewesen, erklärt Lang. Was für ein glückliches Zusammentreffen! Magie nennt Reid Anderson es. Er erzählt aber auch noch ein paar Anekdoten. Aus insgesamt drei Vorstellungen wurde die Aufzeichnung zusammengeschnitten. In der ersten tanzte Jason Reilly den Tybalt, aber dann wurde Jason Papa und fiel aus, und nun ist Robert Robertson ein wunderbar finsterer Tybalt.

Der ganze Saal johlt

Und dann endlich: der Film! Als zu Beginn die einzelnen Rollen vorgestellt werden, johlt das ganze Ballett, Marcia Haydée als Amme bekommt Applaus. Aber dann wird es ganz still. Kein Wunder. Wie man hineingesogen wird in diese Geschichte! Die man natürlich kennt, und deren Ausgang auch, und doch. Wie unglaublich intensiv ist es, alles so nah zu sehen. Ich weiß bei den Gruppenszenen nie, wo ich hinschauen soll, weil so viel gleichzeitig passiert. Die Kamera aber selektiert, sie lenkt den Blick, und das macht es in gewisser Weise einfacher, und gleichzeitig wird die große Kunst Crankos noch deutlicher, als wenn man im Opernhaus sitzt, wenn man nämlich kapiert, aus wie viel unzähligen, oft sehr liebevollen Details diese Szenen bestehen. Das Stuttgarter Ballett tanzt diese Gruppenszenen mit einer Energie, die einen schier vom Kinosessel reißt. Einen Riesenspaß macht natürlich auch das Wiedersehen mit Marcia Haydée als Amme, Reid Anderson als Graf Capulet und Egon Madsen als Pater Lorenzo.

Gleichzeitig macht die Aufzeichnung vieles auch sehr viel dramatischer. All die Szenen, die Romeo und Julia gehören! Wie sie sich verlieben, so unschuldig anfangs, und dann so unendlich traurig nach der Hochzeitsnacht. Alle Leichtigkeit ist dahin, und wie sie das spielen und tanzen, Elisa Badenes und David Moore, das ist ergreifend, hinreißend und in den Nahaufnahmen kaum zum Aushalten. Ja, man weiß vorher, wie es ausgeht - es so nah zu sehen, das geht unter die Haut. Und so fließen schon an diesem ersten Abend Tränen, und soviel darf verraten werden: Auch Männer weinen im Kinosaal, als Romeo und Julia am Ende sterben.

Glückwünsche von allen Seiten

Nach dem Film dauert es eine Weile, bis Elisa Badenes und David Moore in der Lage sind, Fragen zu beantworten, sie werden natürlich von allen Seiten umarmt und beglückwünscht. Reid Anderson gratuliert David Moore zu seiner tänzerischen Leistung. Elisa Badenes ist irgendwo im Tumult steckengeblieben und kann sich endlich loseisen. Romeo und Julia strahlen beide. Wie war’s denn nun, sich im Film zu sehen? „Man fühlt sich ein bisschen wie ein Filmstar“, lacht Elisa. „All die vielen Details zu sehen ist schon ziemlich unglaublich. Und dann auf so einer riesigen Leinwand!“ – „Ja, am Anfang war’s klasse“, bestätigt David. „Aber wenn man dann sieht, dass der Kamera wirklich kein Detail entgeht, wird einem auch ein bisschen mulmig. Du siehst ja immer etwas, wo du denkst, das hättest du eigentlich besser machen können, die Szene hätte ich eigentlich gern nochmal wiederholt.“ – „Wir sind immer ziemlich kritisch mit uns selber“, nickt Elisa. „Aber ich denke, im Film geht es sehr viel mehr um die Dramatik und die Emotionen, weniger um die Technik.“ Waren die Vorstellungen, die gefilmt wurden, denn anders als „normale“ Vorstellungen? Auf jeden Fall, da sind sich beide einig. „Zu wissen, dass dein Gesicht in Großaufnahme gefilmt wird!“, meint Elisa. Auch David bestätigt, dass die Filmaufnahmen eine Ausnahmesituation dargestellt haben. „Du tanzt da eine Rolle, die so groß ist, und die schon von Tausenden von Tänzern vor dir getanzt worden ist, und plötzlich ruht da die Kamera auf dir, das war schon ein großer Druck. Aber wir hatten ja die Unterstützung der ganzen Kompanie!“ Und warum sollten sich die Ballettfans den Film unbedingt anschauen? „Weil es eine andere Erfahrung ist“, meint David. „Diese Details sieht man so bei einer normalen Vorstellung nicht“, bestätigt auch Elisa.

Beide arbeiten schon seit Jahren mit Reid Anderson. Was wird ihnen fehlen? Sie sind sich einig: „Dass er immer an uns geglaubt hat, selbst, wenn wir nicht an uns geglaubt haben – dieses Vertrauen ist etwas ganz Besonderes und es überträgt sich auf dich!“ Und worauf freuen sie sich jetzt selber am meisten, in den kommenden zehn Tagen? „Dass wir so viele Stücke aus der Vergangenheit tanzen“, meint Elisa. „Das wird ein wenig nostalgisch und sentimental werden. Aber schön.“ „Und dann natürlich die Gala“, ergänzt David. „Aber da dürfen wir nichts verraten...“

Verraten werden soll noch so viel: Die beiden durften dann endlich mit Sekt und Fingerfood feiern, zusammen mit ihren Kollegen. Und kein Geheimnis ist außerdem, dass heute Abend „Lulu“ auf dem Programm steht, mit Alicia Amatriain in der Hauptrolle. Und zu guter Letzt sei noch verraten, dass „Onegin“ im Herbst ins Kino kommt.