Ein Ballettfan ganz nah dran: Die Stuttgarter Autorin Elisabeth Kabatek begleitet die Reid-Anderson-Festwoche beim Stuttgarter Ballett mit einer Kolumne. Am Sonntag erlebte sie, wie Reid Anderson seine One-Man-Show zu einem sehr persönlichen Best-of aus 22 Jahren Intendanz macht.

Stuttgart - Es ist Sonntagnachmittag, 13 Uhr, es ist heiß, man könnte ins Freibad oder in einen Biergarten gehen, aber das Schauspielhaus ist voll. Roman Novitzky hat gerade im Foyer vor sehr viel Publikum seinen Fotoband „Der tanzende Blick“ präsentiert. Das Multitalent ist nicht nur ein fabelhafter Tänzer – erst gestern Abend war er in „Lulu“ zu sehen, in der Verfilmung von „Romeo und Julia“ tanzte er Graf Paris – sondern auch ein hervorragender Fotograf. Hauptsächlich geht es heute aber um den, der geht: Reid Anderson, der scheidende Ballettchef. Er wird später sagen, dass er seinen Tänzerinnen und Tänzern einen freien Tag gönnen musste, bevor der Kraftakt der sieben kommenden Vorstellungen beginnt. Als ob diese Veranstaltung ein Lückenfüller wäre! Als ob nicht alle wüssten, dass eine One-Man-Show von und mit Reid Anderson eine fabelhafte Mischung aus kurzweilig, informativ und amüsant werden würde! Und ja, es wird viel gelacht in diesen zwei Stunden. Der Noch-Ballettdirektor betont am Anfang, dass sein Rückblick auf die 22 Jahre seiner Intendanz ein subjektiver und persönlicher ist, dass er nicht versucht hat, es jedem Recht zu machen: Er will seine persönlichen Highlights präsentieren.

 

In einem Tag zum Intendanten

Die nächsten zwei Stunden füllt Reid Anderson mit Filmclips – sehr kurzen, wie er betont – Anekdoten und Geschichten. Selbstverständlich haben die meisten hier das, was in den Filmausschnitten gezeigt wird, auf der Bühne gesehen. Reid Anderson beginnt mit der Anekdote, wie er innerhalb eines Tages zum Stuttgarter Intendanten gekürt wurde, nachdem er ein Gremium von 22 strengen Politikern überstanden hatte. Dann begann er seine Intendanz mit „Romeo und Julia“ und feierte erste Erfolge mit Margaret Illmann, Robert Tewsley, Yseult Lendvai und Vladimir Malakhov. Es gibt ein Wiedersehen mit einem sehr jungen Eric Gauthier, einem ebenfalls sehr jungen Jason Reilly, dem tanzenden designierten Intendanten Tamas Detrich, mit Sue Jin Kang – die im Publikum sitzt! – mit Filip Barankiewicz, Bridget Breiner, Katja Wünsche und William Moore. Dann geht es um die Choreografen, um Christian Spuck, Marco Goecke, Edward Clug. Viele, viele weitere Namen fallen in diesen zwei Stunden, viele sehr kurz Filmausschnitte werden gezeigt, bis einem fast der Kopf schwirrt, und zu jedem Namen weiß Reid Anderson eine Anekdote zu erzählen, bis wir dann (fast) in der Gegenwart angekommen sind, bei „Krabat“ von Demis Volpi, einem der größten Publikumsrenner des Balletts, permanent ausverkauft. Seinen Rückblick, ganz Teamplayer, beendet Reid Anderson mit „Der Tod in Venedig“ und er betont, wie wichtig und großartig diese Kooperation von Oper und Ballett war, und wie fabelhaft der Sänger Matthias Klink.

Mit einem schwäbischen „Adele“ geht er von der Bühne

Es ist jetzt kurz vor drei, Reid Anderson erinnert an sein Versprechen, pünktlich Schluss zu machen und kickt einen imaginären Fußball in die Luft. „Sie hätten ja Ihre Zelte mitbringen können, dann wären wir eine Woche hiergeblieben.“ Man traut ihm das ohne Weiteres zu, dass er stunden- und tagelang so weiterplaudern könnte, ohne dass es einem auch nur eine Sekunde langweilig werden würde. Aber nun wird der scheidende Intendant ein wenig feierlich. „In fast jedem Interview, das ich in den letzten Tagen geführt habe, und es waren viele, kam die Frage nach dem berühmten Stuttgarter Publikum. Und jetzt möchte ich mich bei Ihnen bedanken, beim berühmten Stuttgarter Publikum. Ich bin nicht traurig, ich möchte aufhören. Aber Stuttgart war und ist mein Leben. Ich sage das nicht, um Ihnen zu schmeicheln, es ist die Wahrheit. Sie kennen alles, Sie wissen alles.“ Und dann geht er mit einem echt schwäbischen „Adele“ von der Bühne. Das Publikum aber springt auf und beginnt wie verrückt zu applaudieren. Reid Anderson kehrt zurück und nimmt gerührt die Standing Ovations des Stuttgarter Publikums, seines Stuttgarter Publikums entgegen, und nun müssen viele ein paar Tränchen verdrücken. Es ist ein bewegender, berührender und sehr intimer Moment. Eine Ära geht zu Ende, eigentlich ja erst am nächsten Sonntag bei der Gala, aber dieser Augenblick gehört nicht der Kompanie, nicht den Politikern und nicht den Gästen, er gehört Reid Anderson und SEINEM Stuttgarter Publikum.

Ein Reid Anderson, der nichts tut? Unvorstellbar

Für unser kleines Interview setzen wir uns auf die Bänke vor dem Schauspielhaus. Auf dem Weg dorthin muss Reid Anderson immer wieder Fotos und Programmhefte signieren, Hände schütteln, Dankesworte entgegennehmen. Das Publikum beweist seine Treue, bis zum Schluss, und der scheidende Intendant ist bei jeder Begegnung gleichbleibend freundlich und nimmt sich Zeit, auch für unser Gespräch. Die Liste der Dinge, die ihm in den letzten 22 Jahren gelungen sind, ist lang, aber was erfüllt ihn am meisten mit Stolz? „Die Schule“, sagt er ohne Zögern. „Johns Name ist damit verbunden, und das Gebäude ist da und bleibt für immer. Das macht mich superglücklich. Es macht mir nichts aus, dass die Schule erst nach meiner Zeit als Intendant eingeweiht wird.“ Wir erinnern uns: Wie ein Löwe hat Reid Anderson gekämpft, bis er von der Politik die Zusage für den dringend notwendigen Neubau der John-Cranko-Schule bekam. Nicht nur die Bedingungen für den tänzerischen Nachwuchs werden damit verbessert, die Kompanie wird auch endlich einen Probenraum haben ohne Säulen im Weg, wie es bisher der Fall und eigentlich unvorstellbar ist für ein Ballett von Weltrang. Mich interessiert, was er aus seiner täglichen Routine im Opernhaus am meisten vermissen wird. „Kein Tag war wie der andere und der Fokus wechselte ständig. Man muss sich das so vorstellen, ich plane ein Gastspiel in Tokio in drei Jahren und dann gehe ich zum Training und sage zu einem Tänzer, dass er sein Bein mehr strecken soll. Das ging alles immer Schlag auf Schlag, den ganzen Tag durch. Jetzt kann ich mir vorstellen, nichts mehr zu machen. Mein neues Leben fängt an und ich freue mich drauf.“ Man kann sich nicht wirklich vorstellen, dass Reid Anderson nichts macht, zumal er Anfragen aus der ganzen Welt hat, Cranko-Ballette einzustudieren, und schon viele Verpflichtungen eingegangen ist. Auch wenn Stuttgart seine Heimat bleibt, wird er viel unterwegs sein. Wie sieht das aus, wenn jemand wie Reid Anderson nichts macht? „Ich habe in meiner ganzen Laufbahn in der spielfreien Zeit im Sommer nichts gemacht. Ich kann das gut.“

Sitzungen? Die wird er nicht vermissen

„Sind Sie dann viel gereist?“

„Nein, gar nicht! Ich habe dann viel gelesen, Fitness gemacht, war schwimmen. Und während der Spielzeit habe ich abends nie gearbeitet.“

„Aber es gab doch praktisch keine Vorstellung, bei der Sie nicht präsent waren!“

„Das zählt nicht. Das war für mich eine Berufung, kein Beruf, ich bin bezahlt worden für das, was ich liebe. Vorstellungen waren für mich immer sehr entspannt, ich bin da immer mit dem Gefühl reingegangen, jetzt kannst du eh nichts mehr machen. Aber wenn ich abends zu Hause war, habe ich nie gearbeitet!“ Und was hat ihm keinen Spaß gemacht? Erst fällt ihm nichts ein. Aber dann. „Sitzungen! Ich hasse Sitzungen. Eine Qual!“ Wird er denn nun ein neues Hobby anfangen? Er schüttelt vehement mit dem Kopf. „Ich hatte nie ein Hobby und brauche auch keins. Ich will schreiben. Mein Deutsch verbessern, meinen Wortschatz erweitern. Und lesen, viel lesen!“

Diesen Blog wird er übrigens nicht lesen. Reid Anderson ist berühmt dafür, dass er keinen Computer hat – der Qualität seiner Arbeit hat es keinen Abbruch getan. Sein einziges Zugeständnis an die modernen Technologien ist sein Smartphone. „Vielleicht werde ich mir jetzt einen Computer anschaffen. Großes Interesse habe ich ehrlich gesagt nicht. YouTube, Facebook, das war mir immer egal. Ich google auch fast nie etwas.“ Alle Fans von Reid Anderson müssen jetzt sehr stark sein: Einen twitternden Ex-Ballettchef wird es auch in Zukunft nicht geben.