Beim Ballettabend „Begegnungen“ stehen viele Stars des Balletts gleichzeitig auf der Bühne. Wie es ist, selber an der Stange zu stehen, hat unsere Autorin Elisabeth Kabatek unter Anleitung von Friedemann Vogel getestet.

Stuttgart - Vielleicht haben Sie gestern nach einem neuen Blog gesucht und sich gewundert, dass es keinen gab? Das lag ganz einfach daran, dass am Mittwoch das Programm von Montag, also die „Party Pieces“, wiederholt wurde. Ich hatte also einen ballettfreien Abend. Ein freier Abend! Toll! Endlich mal früh ins Bett! Theoretisch. Aber dann fühlte es sich irgendwie so seltsam an, nicht zum Ballett zu gehen. Irgendwie leer. Außerdem würde Jason Reilly nun doch noch „Mono Lisa“ mit Alicia Amatriain tanzen. Und da ein Leben ohne Ballett möglich, aber irgendwie sinnlos ist, habe ich mir die „Party Pieces“ noch einmal angeschaut, und was soll ich sagen? Es war noch großartiger als am Montag! Die Tänzer waren noch besser, wenn das überhaupt geht, und der Applaus noch länger, und allein das Finale mit Jason und Alicia wäre es wert gewesen, noch einmal hinzugehen! Danach gab es Standing Ovations für Reid Anderson und alle Tänzerinnen und Tänzer, und der Applaus wollte nicht enden, aber das können Sie sich eh schon denken.

 

Gestern Abend nun stand der Ballettabend „Begegnungen“ auf dem Programm. Raten Sie mal, wie der Applaus ausgefallen ist. Das lag unter anderem daran, dass praktisch sämtliche Ersten Solistinnen und Solisten auf der Bühne standen, in Jerome Robbins’ „Dances at a Gathering“. Ein Staraufgebot sondergleichen! Heute Abend wird nicht gekleckert, sondern geklotzt! In immer neuen Konstellationen finden sich die Tänzerinnen und Tänzer zusammen. Alicia Amatriain und Jason Reilly. Jason allein. Friedemann Vogel und Anna Osadcenko. Hyo-Jung Kang in einer urkomischen Szene, in der sie vergeblich versucht, männliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. David Moore, der übrigens sein Rollendebüt gibt, in einem innigen Pas de deux mit Alicia. Elisa, Anna und Alicia. Das alles ist sehr fröhlich und federleicht, in pastellfarbenen Kostümen, im Walzertakt vor einem frühlingsblauen Himmel mit ein paar Wölkchen. Ein wenig so, als gingen die Solistinnen und Solisten sonntags im Schlossgarten spazieren, oder wie in einer Jane-Austen-Verfilmung. Am Ende verharren alle wie in einem Stillleben, bevor sie in Paaren abgehen. Eine Choreografie, deren fröhliche Grundstimmung aufs Publikum überschwappt!

Geballtes Ballettwissen

Wie immer versammeln sich in der Pause die Mitglieder der John-Cranko-Gesellschaft im 1. Rang, um über die Vorstellung zu diskutieren. Das tun die immer. Das ist nämlich eine tolle Truppe aus sehr unterschiedlichen Menschen, die eines gemeinsam haben: eine grenzenlose Leidenschaft fürs Ballett! Ich habe den Eindruck, sie verbringen ihre komplette Freizeit dort, und brauchen in ihrer Wohnung mindestens ein Zimmer mehr, um Programmhefte zu stapeln. Diese Woche hätten sie Reid Anderson beim Wort nehmen und zwischen Schauspielhaus und Oper zelten können, denn natürlich kommen sie jeden Abend. Ich glaube, ich war noch nie im Ballett, ohne mindestens vier, fünf Leute der John-Cranko-Gesellschaft zu treffen. Die glühen förmlich für das Ballett! Sie schauen sich alles an, natürlich in sämtlichen Besetzungen. Sie kennen sich hervorragend aus. Sie kennen die Tänzerinnen und Tänzer persönlich, weil diese zu ihren Treffen kommen. Wenn ich irgendwas – egal was! - übers Ballett wissen will, frage ich dort in der Pause nach. Sie können zu allem Auskunft geben, haben einen unglaublich geschulten Blick, und dann sind sie auch noch - nett! Wenn Sie sich also etwas hilflos fühlen oder Fragen haben, hier wird Ihnen geholfen! Im 1. Rang gegenüber vom Merchandising-Stand! Dort hat in der Pause außerdem Anna Osadcenko signiert, und entsprechend war der Stand von Autogrammjägern umlagert. Heute Abend hat sie die Tänzerin in Mauve getanzt, letzten Samstag hat sie mich sehr beeindruckt in der tragischen Rolle der Gräfin Geschwitz in Christian Spucks Lulu.

Daniel Camargo ist als Gast dabei

Nach der Pause geht es weiter mit Crankos „Initialen R.B.M.E.“ Heute Abend tanzt Daniel Camargo als Gast das R von Richard Cragun, Elisa Badenes das B wie Birgit Keil, Alicia Amatriain das M wie Marcia Haydée und Alessandro Giaquinto das E von Egon Madsen. Und Cranko geht gleich in die Vollen – da ist richtig was los und nun wirbelt praktisch das ganze Stuttgarter Ballett über die Bühne. Es wie bei seinen Handlungsballetten: Vor lauter Action weiß man gar nicht, wo hinschauen. Das Kraftpaket Daniel Camargo reißt das Publikum zu Begeisterungsstürmen hin. Für mich ist der schönste Moment des Stücks, ja, des ganzen Abends, wie Alicia und Friedemann im III. Satz den Pas de deux tanzen. Wie sie sich anschauen! Wie sie tanzen! Die beiden sind einfach pure Magie. Zwei Ausnahmetänzer, deren besondere Beziehung zueinander in jeder Sekunde spürbar ist: Zum Heulen schön! Das Thema Applaus lassen wir jetzt mal weg. Sie können sich’s denken.

Nach der Vorstellung treffe ich Friedemann Vogel hinter der Bühne. Dort herrscht das übliche Nach-Vorstellungs-Durcheinander, ein Huschen und Flattern schmalgliedriger und muskulöser Gestalten in den Gängen, zwischen Duschen und Garderoben. Anspannung und Konzentration haben sich in fröhliches Geschnatter und Gelächter verwandelt. Reid Anderson umarmt Friedemann Vogel. „You were exquisite“, strahlt er. „Exquisite!“

„Wir machen das Foto im Ballettsaal, an der Stange“, beschließt Friedemann Vogel spontan. Äh. Stange? Ballettsaal? Offensichtlich kennt Friedemann Vogel meinen allerschlimmsten Albtraum nicht: Ich finde mich auf der Bühne des Opernhauses wieder, trage Spitzenschuhe und ein dünnes Kleidchen, Hunderte von Zuschauern sehen mich erwartungsvoll an, das Orchester fängt an zu spielen und ich – muss tanzen... Ich kann nicht tanzen!! Es ist dann aber sehr lustig, mit Friedemann an der Stange, vor allem, als ich versuche, seine Position nachzuahmen.

Momente, die bleiben

Heute Abend hat er Crankos „Initialen“ getanzt. Was bedeutet ihm Cranko?

„Ich bin mit Cranko aufgewachsen. Mein Bruder war ja Tänzer, und meine Eltern haben mich schon mit fünf Jahren ins Ballett mitgenommen, und dann fast jede Woche. Da war damals schon diese Faszination, und mir war immer klar, dass ich Tänzer werden wollte, auch wenn meine Schulkameraden das ziemlich seltsam fanden. Das heute, das sind so Momente, die bleiben für immer bei mir.“ Er legt beide Hände aufs Herz, und seine Augen leuchten. „Mit Alicia, diese Innigkeit, das sind Momente, die bleiben.“

Diese Innigkeit, die niemandem entgeht, der die beiden tanzen sieht.

„Am Montag und am Mittwoch haben sie bei den ,Party Pieces’ mit dem Goecke-Stück ,Fancy Goods’ abgeräumt. Worin liegt die besondere Herausforderung, wenn Sie Goecke tanzen?“

„Das kann ich gar nicht so sagen. Das Schwierige ist der Wechsel. Wir haben Goecke geprobt und dann musste ich gleich rein in die ,Initialen’, weil der Durchlauf schon fertig war – diese schnelle Umstellung, das ist dann eine echte Herausforderung.“

„Und was heißt das für den Körper?“

„Ich denke nie an den Körper. Man muss sich einfach in jede Bewegung reinschmeißen. Im Moment sind wir alle sehr müde, es ist nun mal wahnsinnig viel, aber das ist auch eine Kopfsache. Man kann sich total verausgaben und dann trotzdem wieder Energie und Kraft sammeln, beim Tanzen, dann geht es auch wieder.“

„Gibt das Publikum, der Applaus Energie?“

„Vielleicht nicht unbedingt Energie - das Tolle ist, wenn Publikum da ist. Das ist anders als bei der Generalprobe, ohne Publikum. Bei der Vorstellung kommen noch einmal Kräfte dazu, die man bei der Probe in der Form so nicht entwickelt.“

Das richtige Gespür fürs Publikum

„Im Herbst tanzen Sie wieder in Tokio – dort sind Alicia und Sie Superstars. Wie fühlt sich das an?“

„Das ist ganz toll! Es ist völlig crazy.“

„Damit können die eher nüchternen Schwaben nicht mithalten, oder?“

„Wir können uns hier ja nun wahrlich nicht über das Publikum beklagen. Von so einer Reise bringt man vor allem seine Erfahrungen mit, Erfahrungen, die man nicht vergisst. Je mehr man erlebt, desto mehr kann man dann auch einbauen.“

„Und zum Schluss: Was verbinden Sie vor allem mit Reid Anderson?“

„Er hat mich meine ganze Karriere hindurch betreut, das ist die persönliche Ebene. Aber wenn ich das jetzt mal allgemeiner betrachte: Er hat das richtige Gespür für das, was das Publikum sehen will. Man muss sich ja nur die Auslastung des Stuttgarter Balletts anschauen. Er hat das Gespür für Kunst!“

Nun ist es aber höchste Zeit für den Feierabend dieses wunderbaren, unprätentiösen Tänzers! Vor der Pforte des Balletts stehen die Tänzerinnen und Tänzer noch in Grüppchen zusammen und besprechen den Abend nach, einige hocken auf dem Boden. Ganz normale junge Leute, die chillen, könnte man denken, wenn man es nicht besser wüsste!

Morgen macht die Ausnahmetruppe weiter, und Hyo-Jung Kang und Jason Reilly tanzen „Onegin“, das Lieblingsballett von Reid Anderson, und ich darf beide hinterher treffen, hurra! Leider ist die Vorstellung ausverkauft, aber Ballett im Park naht!