Weitspringer Markus Rehm darf nicht bei der EM in Zürich starten. Der Deutsche Leichtathletik-Verband begründet die Nichtnominierung mit Zweifeln an der Vergleichbarkeit der Leistungen. Droht ein Rechtsstreit wie einst bei Oscar Pistorius?

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

Frankfurt/Main - Thomas Kurschilgen bittet um etwas Geduld. Der Sportdirektor des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) sitzt vor einem langen Tisch in Frankfurt, die Kameras sind auf ihn gerichtet. Es ist die Nominierungspressekonferenz vor der EM in Zürich (12. bis 17. August). Kur-schilgen weiß, dass die meisten vor allem wegen einer Person hier im Schulungsraum „Fulda“ in der Zentrale des hessischen Landessportbundes sind: wegen des unterschenkelamputierten Weitspringers Markus Rehm. Aus Respekt vor den anderen Athleten aber wolle er sich erst den anderen widmen, sagt Kurschilgen und spricht dann erstmal ein bisschen über das EM-Aufgebot: 93 Männer und Frauen, so viele Athleten wie seit 1998 nicht mehr, vertreten den DLV in Zürich.

 

Markus Rehm nicht. Das sagt wenig später der DLV-Präsident Clemens Prokop. Der 25-Jährige hatte sich mit seinem 8,24 Meter weiten Sprung am Samstag in Ulm die Deutsche Meisterschaft gesichert, an der er unter Vorbehalt teilnehmen durfte, und damit eine intensive Diskussion über die Teilhabe von Behinderten im Hochleistungssport ausgelöst. Neben der gesellschaftspolitischen Bedeutung seines Sieges war die Frage vor allem: Hat das in Donzdorf bei Göppingen geborene Ausnahmetalent durch seine Prothese am rechten Sprungbein gegenüber seinen nichtbehinderten Konkurrenten einen Vorteil? Der DLV hat darauf am Mittwoch eine klare Antwort gefunden: Ja, den hat er.

Geringere Energieverluste am Brett

Der DLV-Cheftrainer Idriss Gonschinska erklärte auch, warum. „Markus genießt als Sportler meinen absoluten Respekt“, betonte er. Die Zweifel daran, dass ein Absprung mit einer Karbonprothese und der Absprung mit dem menschlichen Sprunggelenk unter vergleichbaren mechanischen Bedingungen verlaufen, hätten aber nicht ausgeräumt werden können: „Wenn ein Sportler mit einer deutlich geringeren Anlaufgeschwindigkeit die gleiche Flugweite erzielt, muss er zwangsweise geringere Energieverluste am Brett haben.“ Die Begründung basiert auf Daten, die am Wochenende gesammelt wurden und mit anderen Sprüngen des Ulmer Wettkampfs sowie weiteren Acht-Meter-Sprüngen abgeglichen wurden. Die Frage, ob Rehm den Titel Deutscher Meister behalten darf, ist noch ungeklärt.

„Ich finde es schade und enttäuschend“, sagte Rehm. Im Vorfeld hatte er angekündigt, keine rechtlichen Schritte gegen eine Nichtnominierung einlegen zu wollen. Nun sagte er: „Wenn es eine kluge Entscheidung ist, ist das keine Option. Wenn ich Zweifel an der Begründung habe, werde ich mich beraten lassen.“ Der DLV, der ihn vor der Bekanntgabe informiert hatte, will sich mit Rehm treffen und ihm die Entscheidung detailliert darlegen.

Komplexe Überlegungen

Das ganze Thema ist ähnlich komplex wie einst der Präzedenzfall von Oscar Pistorius. Verkompliziert wird Rehms Fall durch die Besonderheiten des Weitsprungs, also die Kombination aus Springen und Laufen. Im Grunde geht es darum, horizontale Geschwindigkeit (Anlauf) in vertikale Geschwindigkeit (Absprung) umzusetzen. Neben dem richtigen Absprungwinkel ist der Energieverlust beim Absprung ein entscheidendes Kriterium. Die Messungen haben laut DLV ergeben, dass Rehm beim Absprung eine Geschwindigkeit von 9,73 Metern pro Sekunde hatte, der Ulm-Zweite Christian Reif lag bei 10,74. Das nähre die Zweifel daran, dass die mechanischen Bedingungen vergleichbar sind – von Rehms Karbonfeder und Reifs Muskelsehnensystem.

Die Geschwindigkeitsnachteile im Anlauf kompensiere Rehm durch eine „unglaubliche Absprungeffizienz“, sagte Gonschinska. Der Biomechaniker Veit Wank von der Uni Tübingen sprach von einer Energiespeicherung von 95 Prozent beim Absprung durch die Karbonprothese – ein Wert, von dem das menschliche Sprunggelenk weit entfernt sei. Der Fuß eines Christian Reif, so der DLV, könne beim Absprung nicht annähernd mit den Kräften mithalten, die bei einer Prothese wirkten. „Er würde kollabieren“, sagte Gonschinska: „Es ist also eine nicht vergleichbare Situation.“

Bedauern und Kritik vom Behindertensport

Der DLV verwies auch darauf, dass er aus drei Sportlern auswählen musste, von denen er nur zwei nominieren durfte: Sebastian Bayer, Julian Howard und eben Markus Rehm; Christian Reif hatte als einziger alle Kriterien für die Nominierung erfüllt. Allerdings hätte der DLV Rehm auch dann nicht nominiert, wenn er als einziger Kandidat zur Wahl gestanden hätte. Christian Reif, der Europameister von 2010, meldete sich nach der Entscheidung zu Wort. „Danke Markus, du hast allen gezeigt, wozu ein Sportler mit Behinderung fähig ist“, sagte er: „Vorteil hin oder her, für mich bist du ein Gewinner.“ Der Deutsche Behindertensport bedauerte die Nichtnominierung: „Ich hätte dem DLV gewünscht, mutiger zu sein“, sagte der Vizepräsident Karl Quade: „Die Untersuchung in Ulm ist keine solide Basis. Dass man daraus valide ableiten kann, Rehm hätte einen Vorteil, erkenne ich nicht.“ Die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Verena Bentele, sagte: „Die Messungen, die unzureichend waren mit Video und Geschwindigkeitsmessung, als Grundlage zu nehmen, finde ich nicht aussagekräftig.“ Sie hätte sich vom DLV ein Statement für die Inklusion gewünscht: „Es wäre konsequent gewesen und eine politische Entscheidung.“

Und nun? Prokop zufolge sucht man schon länger nach einer Lösung. Auf ein aufwendiges Gutachten sei Anfang des Jahres aus Kostengründen verzichtet worden. Überhaupt sei der Umgang mit Athleten, die Prothesen benötigen, nur auf der Ebene des Weltsports zu lösen.