Er zieht noch immer die Massen an, quer durch alle Altersgruppen: Hans Magnus Enzensberger demonstriert an der Universität Tübingen den Unterschied zwischen Wissenschaft und Poesie.

Stuttgart - Er zieht noch immer die Massen an, quer durch alle Altersgruppen: Hans Magnus Enzensberger, der Altmeister der deutschen Nachkriegsliteratur, der gerade 84 Jahre alt geworden ist. Damit hatte beim Deutschen Seminar der Universität Tübingen, das alljährlich die Tübinger Poetik-Dozentur ausrichtet und diesmal Dirk von Petersdorff und eben Enzensberger eingeladen hatte, offenbar niemand gerechnet. Denn im Auditorium maximum der Universität, das man als Veranstaltungsort für Enzensbergers drei Vorlesungen ausgewählt hatte, waren schon eine halbe Stunde vor dem offiziellen Starttermin alle Plätze besetzt. Notgedrungen mussten schließlich alle in den gegenüberliegenden größeren Festsaal umziehen. Als der begehrte Gast endlich ans Mikrofon trat, war sei Kommentar zum Massenandrang gewohnt selbstironisch: „Selber schuld“.

 

Was also macht diesen Mann für das Publikum von jung bis alt so anziehend? Die Gastgeberin Dorothee Kimmich ersparte sich in ihrer Begrüßung auf elegante Weise eine Antwort: Enzensberger, der vor mehr als 55 Jahren von seinem damaligen Mentor Alfred Andersch als „zorniger junger Mann“ in die deutsche Literaturszene eingeführt worden war, sei ein Autor, den man gar nicht mehr vorstellen müsse. Vielleicht wollten gerade die Jüngeren diesen Tausendsassa, der seit den 1950er Jahren in den wechselnden Rollen des Lyrikers, Essayisten, Zeitschriftengründers, Herausgebers, Kulturkritikers, Medientheoretikers und Mathematikers aufgetreten ist, einfach einmal live erleben, um nachher sagen zu können: Auch ich bin dabei gewesen.

Im Strudel der Ereignisse

Nach einigem ironischen Vorgeplänkel („Ich bin nie Professor gewesen“) setzte Enzensberger dann aber doch zu einer richtigen Vorlesung an. Und die hatte auch ein Thema, das man so formulieren könnte: Wer ist der wahre Geschichtsschreiber – der wissenschaftliche Historiker oder der Dichter? Enzensberger verwies zunächst auf drei seiner eigenen Bücher, die ihn zu dieser Fragestellung berechtigten, weil er dafür wie ein professioneller Historiker in Archiven hatte recherchieren und Zeitzeugen befragen müssen. Gemeint waren seine Biografie des spanischen Anarchisten Buenaventura Durruti, 1972 unter dem Titel „Der kurze Sommer der Anarchie“ erschienen; ferner das „Requiem für eine romantische Frau“ ( 1995 ), das die Beziehung zwischen dem Dichter Clemens Brentano und dessen zweiter Frau Auguste Bußmann zum Inhalt hatte; schließlich „Hammerstein oder der Eigensinn“ ( 2008 ), ein Buch über den deutschen General Kurt von Hammerstein und dessen Familie.

Nehmen wir einmal an, so Enzensberger, Ihre 25-jährige Tochter lebt in Berlin (wie seine eigene) und fragt Sie, wie die Verhältnisse dort in den 1920er Jahren, in den Zeiten der Weimarer Republik, gewesen seien. Dann hat man zwei Möglichkeiten. Entweder man schlägt nach in einem historischen Standardwerk, etwa in der „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ von Hans-Ulrich Wehler. Oder man liest einen Roman wie Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“. Beide Bücher böten, so Enzensberger, völlig verschiedene Lesarten der Geschichte an. Während Wehler aus der Vogelschau auf die zwanziger Jahre blicke, nehme Döblins Roman die Perspektive der Straßenecke ein, ziehe einen mitten hinein in den „Strudel der Ereignisse“. Wo Wehler abstrakt von Kapitalknappheit und Verteilungskämpfen rede, mache man bei Döblin Bekanntschaft mit Räuschen, Gerüchen und Kindergeschrei. Während Wehler eine geschichtliche Landschaft beschreibe, die menschenleer sei wie ein Bild von de Chirico, löse sich bei Döblin das Kollektiv in lauter einzelne Subjekte und deren jeweils eigene Sprache auf, in ein „Babel von subjektiven und objektiven Äußerungen“.

Wissenschaftler und Dichter ziehen am gleichen Strang

Wehlers Blick auf die zwanziger Jahre, so Enzensberger, habe seine Tochter kalt gelassen, Döblins Roman dagegen nicht. Deshalb lautete sein Resümee: „Ohne historische Fantasie bleibt die Vergangenheit eine Abstraktion“, man dürfe das historische Material nicht nur beschreiben, sondern müsse gewissermaßen in es hineinschlüpfen. Die Auffassung Voltaires, der Unterschied zwischen dem Historiker und dem Dichter bestehe darin, dass die Aussagen des einen wahr und die des anderen unwahr seien, lasse sich deshalb heute in dieser Form nicht mehr vertreten.

Enzensberger wäre aber nicht Enzensberger, wenn er diese klare Gegenüberstellung von Wissenschaft und Poesie in einem zweiten Schritt nicht wieder verwischen würde. Schließlich gilt er selbst als „poeta doctus“, als gelehrter Dichter, der sich in den Wissenschaften von der Mathematik bis zur Medientheorie zu gut auskennt, um sie zu verachten. Wissenschaft und Dichtung verhielten sich komplementär zueinander. Das Werk von Historikern wie Leopold von Ranke, Jacob Burckhardt, Jules Michelet oder Fernand Braudel habe selbst literarische Qualitäten; umgekehrt könne keine Beschäftigung mit der napoleonischen Ära auf eine Lektüre von Tolstois „Krieg und Frieden“, keine Auseinandersetzung mit der französischen Geschichte des 19. Jahrhunderts auf die Romane von Stendhal, Balzac oder Zola verzichten. Herodot, der als Urvater der Geschichtsschreibung gilt, habe die Fähigkeiten beider Disziplinen, des Wissenschaftlers wie des Dichters, in sich vereinigt, sei zugleich quellenkritischer Reporter, Ethnograf und Märchenerzähler gewesen. Ihn hat sich Enzensberger, der Verfasser von Reiseberichten wie „Ach, Europa!“, erkennbar zum Schutzpatron erkoren.