Mehr als 60 kleine Erdbeben hat es in den vergangenen vier Wochen bei Singen gegeben. Für den Konstanzer Landrat ist dies ein klarer Beleg dafür, dass sich die Region nicht für ein Atommüllendlager eignet. Doch die Schweizer Seite sieht das weniger kritisch.

Baden-Württemberg: Eberhard Wein (kew)

Hilzingen - Das Erdbeben ist auch bei den Kindern der Gottmadinger Grundschule in diesen Tagen das große Thema. „Ich bin davon aus dem Bett gefallen“, prahlt ein Drittklässler und erntet die anerkennenden Blicke seiner Kameraden. „Na, ganz so schlimm war es ja nicht“, widerspricht Daniela Mauch. Klar, die Lehrerin weiß es mal wieder besser: nicht nur kraft Amtes, sondern auch, weil sie im benachbarten Hilzingen wohnt. Das ist nämlich das eigentliche Epizentrum im Hegau.

 

Mehr als 60-mal hat in der 8500-Einwohner-Gemeinde seit Anfang November der Untergrund gewackelt. Das Epizentrum lag immer an der gleichen Stelle: unterhalb einer Wiese am nördlichen Ortsrand, mal in vier, mal in fünf, mal in sechs Kilometer Tiefe. Die stärksten Stöße verzeichnete der Erdbebendienst Südwest am 3. November um 6.48 Uhr. 3,0 erreichten sie auf der Richterskala.

„Als ob ein Bücherschrank umfällt.“

„Das ist spürbar“, sagt der Seismologe Wolfgang Brüstle vom Landesamt für Geologie, Rohstoffe und Bergbau in Freiburg. Mehr als 400 Meldungen von aufgeschreckten Bürgern gingen damals bei ihm ein. Auch Daniela Mauch hat der Erdstoß geweckt, wenn auch nicht gleich aus dem Bett geschmissen. „Es hat geknallt, als ob nebenan ein Bücherschrank umgefallen wäre“, sagt sie. Dann rumpelte es noch zweimal. Schon war es vorbei. Alle Tassen standen noch im Regal.

Zwei weitere Beben waren ähnlich heftig. Die meisten blieben für Menschen aber unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Brüstles Messstationen, die über das ganze Land verteilt sind, entgingen sie nicht. Wegen der ungewöhnlichen Häufung hat er inzwischen ein tragbares Gerät nach Hilzingen gebracht. Der kleine Koffer in der Größe eines Faxgerätes steht in der Umkleidekabine des Freibads. Dort gibt es Strom und zur Winterzeit keinen Publikumsverkehr.

Woher kommen die Risse im Gemäuer?

Der Bürgermeister Rupert Metzler (FDP) steht im Flur seines Rathauses. Den herrschaftlichen Bau hat die Gemeinde vor Jahren aus dem Besitz des Markgrafen von Baden übernommen. Jetzt blickt Metzler auf einen Riss im Gemäuer. „Keine Ahnung, ob der schon vorher da war“, sagt er. Gegenüber, in der Pfarrkirche Sankt Peter und Paul, wird gerade die neue Orgel gestimmt. Auch dort soll sich ein Riss gezeigt haben. „Das müssen wir jetzt untersuchen“, sagt der Architekt Andreas Wieser. Für vier Millionen Euro hat er den von Peter Thumb entworfenen Schwesterbau der berühmten Wallfahrtskirche Birnaugerade erst saniert.

Erdbeben kannten die meisten Hilzinger bisher nur aus ihrer italienischen Partnergemeinde Lizzano in Belvedere bei Bologna. Dort gab es auch in diesem Jahr schwere Schäden. In Hilzingen meldete sich bisher nur ein Hausbesitzer. Dass seine Versicherung zahlt, ist unwahrscheinlich. Meist werden Forderungen erst von einer Stärke von 3,5 an akzeptiert, oder es sind Gutachten nötig. „Die Erfahrung lehrt, dass solche Serien meist ohne größere Schadensbeben vorübergehen“, sagt Brüstle. Eine Garantie gibt er aber nicht. „Wir können nicht in die Erde hineinsehen.“

„Wir wollen nicht das Atomklo werden“, sagt der Landrat

Tatsächlich wissen die Seismologen noch nicht, was die Beben ausgelöst hat. Ein Zusammenhang mit den Hegau-Vulkanen sei unwahrscheinlich, auch die aktuellen Beben in Italien stünden in keiner Verbindung dazu. „Der Grund für die aktuelle Häufung im Hegau ist uns noch nicht bekannt“, sagt Brüstle. In Baden-Württemberg komme so etwas aber vor. Dem Konstanzer Landrat Frank Hämmerle (CDU) leistet die Erdbebenserie derweil Argumentationshilfe. Der Opalinuston im Hegau gilt als geeignetes Wirtsgestein für ein Atommüllendlager – für Hämmerle ein Horrorszenario. „Wir wollen nicht das Atomklo von Mitteleuropa sein“, sagt er. Die Erdbeben belegten, dass die Region als Endlager gänzlich ungeeignet sei.

In Deutschland dürfte er sich mit dieser Auffassung durchsetzen. Die Endlagerkommission empfehle, erdbebengefährdete Gebiete grundsätzlich als Standorte auszuschließen, sagt der Konstanzer CDU-Bundestagsabgeordnete Andreas Jung, der selbst zur Kommission gehörte. Auf der Schweizer Seite wird es schwieriger. In dem Dorf Benken, nur 30 Kilometer vom Hilzinger Epizentrum entfernt, gibt es bereits einen Sondierungsstollen. Das umliegende Zürcher Weiland gilt als heißer Kandidat für den Standort eines schweizweiten Endlagers. Die Entscheidung fällt 2018.

Erdbebengefahr ist für die Schweiz kein Problem

Die Erdbebengefahr sieht die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) als kalkulierbares Risiko. „Geologische Tiefenlager können und müssen so ausgelegt werden, dass die Langzeitsicherheit auch bei größeren Erdbeben gegeben ist“, teilt sie mit. Die Beben im Raum Singen seien in dieser Hinsicht „vergleichsweise schwach“.