Die Schweizer Musikerin Erika Stucky ist ein Stimm- und Performance-Wunder. Bei ihrem alljährlichen Neujahrskonzert im Theaterhaus hat sie diesmal auf unerhörte Art den Blues interpretiert.

Stuttgart - Was ist das für eine Art, ein neues Jahrzehnt anzufangen?“, ruft Erika Stucky nach eineinhalb Stunden in den Saal T2 des Theaterhauses. Das Neujahrskonzert der in den USA geborenen Schweizerin, die seit elf Jahren immer ein anderes Programm aufbietet, ist wieder ausverkauft, und das Publikum hört gar nicht auf zu jubeln: Die Frau mit der mächtigen Wunderstimme und dem unglaublichen Tonumfang hat den Blues gewürdigt in einer originellen Musik-Performance voller Anspielungen.

 

Mit schwarzem Hut und rotem Kleid intoniert sie echte und satirische Blues-Zeilen („I like coffee, but I don’t like tea / I sure like a river, but I don’t like the sea“), und auch diesmal gurrt, schmettert, scattet, röhrt und jodelt sie, dass es eine Lust ist. Immer wieder heult Stucky wie ein Wolf, und auf ein Fingerschnippen werden alle im Saal zum Rudel. Das hätte dem Blues-Giganten Howlin Wolf sicher gefallen. Was Blues und Jodeln gemeinsam haben, arbeitet Stucky ebenfalls schön heraus: Manchmal scheint sie beides gleichzeitig aufzuführen, wenn zu drei Akkorden zwischen Singstimme und Kopfstimme oszilliert. Dabei fasst sie das Genre weit und interpretiert auch Songs wie „Maggie’s Farm“ von Bob Dylan oder „Pop Star“ von Cat Stevens.

Miniaturen entfalten eine erstaunliche Wirkung

Mit Gesten und komödiantischer Mimik untermalt Erika Stucky ihre Stimmakrobatik, anmutig greift sie Dinge aus der Luft, gestikuliert wie eine Geisterbeschwörerin oder erzeugt auf ihrem roten Plüschsessel die Geräusche eines Schaukelstuhls auf einer amerikanischen Veranda. Jedes Detail kommt genau auf den Punkt, aller Augen sind auf diese einnehmende Performance-Künstlerin gerichtet, um ja nichts zu verpassen.

Dabei sind zwei exzellente Session-Musiker mit Stucky auf der Bühne, der beschlagene Rock’n’Roll-Gitarrist Paul Cuddeford und der Multiinstrumentalist Terry Edwards, der Bass, Gitarre, Trompete und zwei Saxofone gleichzeitig spielt. „Sie sind aus London, sie verstehen meinen Humor“, sagt Stucky. Mal spielt Cuddeford ein verträumt singendes Slide-Solo, als bebildere er einen Frühling in den Südstaaten, mal improvisiert Edwards fiebrig an der Trompete, als steckte in ihm eine mexikanische Seele. Stucky spielt ihr Akkordeon, eine Miniatur, die wie viele andere an diesem Abend eine erstaunliche Wirkung entfaltet.

Viel Liebe auf beiden Seiten

Im Bühnenhintergrund läuft ein Ziegenstall-Video, auf das Böhmermann neidisch sein könnte, und einen musikalischen Höhepunkt bildet der gelungene Versuch, ein Stück aus Henry Purcells Barock-Oper „Dido and Aeneas“ auf Blues umzudeuten. Sie spiele in einer aktuellen Inszenierung „die Hexen“, sagt Erika Stucky, und imitiert dann derart explosiv den Gesang einer Sopranistin, dass man kaum glauben kann, dass sie keine ist.

Dieses Neujahrstreffen sei wie „Dinner for one“, findet Stucky, „same procedure as every year“. Der Handzeichen-Test zeigt: Viele sind nicht zum ersten Mal da. Ein „Huragschäft“ sei es, sich jedes Jahr ein völlig neues Programm auszudenken, aber eben auch ein großes Glück, so eine Carte Blanche zu haben und damit einen Saal füllen zu können. Das, sagt sie, meine sie ganz ernst, und man glaubt es ihr – Stuttgart und das Theaterhaus laufen den ganzen Abend über als Themen mit.

Da ist viel Liebe auf beiden Seiten, und am Ende verwandelt die Bühnenpersona Erika Stucky sich vor aller Augen in den Menschen Erika Stucky: Sie zieht ihren Mantel an, nimmt den Rollkoffer und geht durch den Zuschauersaal hinaus. Solch intime Momente gewähren Künstler nur dann, wenn sie wissen, dass man einander vertrauen kann. Was sie am 1. Januar 2021 im Theaterhaus machen will, hat sie nicht verraten. Dem Publikum ist’s egal – auf Erika Stucky kann es sich verlassen.