Hermann Lenz kam in Stuttgart zur Welt. Sein halbes Leben hat er hier verbracht und über die Stadt geschrieben wie kein anderer. Die dankte es ihm wenig. Der StZ-Autor Rainer Moritz erinnert an den vor hundert Jahren geborenen Schriftsteller.

Stuttgart - Wer in jenen Jahren etwas auf sich hielt, kaufte seine Bücher bei Wendelin Niedlich in der Schmalen Straße. Wer sich im Gefühl sonnen wollte, zur (Stuttgarter) Avantgarde zu gehören, schlängelte sich durch James-Joyce- und Robert-Walser-Stapel und nutzte – wie es von Joschka Fischer überliefert ist – die Unübersichtlichkeit dieser Schatzkammer, um sich kurzerhand eine Handvoll Bücher unter den Nagel zu reißen. Und natürlich ging man zum „Kulturarbeiter“ Niedlich, um à jour zu bleiben im Hinblick darauf, was an kühnen experimentellen Texten fernab des Mainstreams produziert wurde. Der Semiotiker Max Bense gab den theoretischen Ton vor, Bazon Brock, Helmut Heißenbüttel, Elfriede Jelinek, Franz Mon und Reinhard Döhl lasen und diskutierten in Niedlichs Buchladen.

 

Auch der Saarländer Ludwig Harig, damals der Stuttgarter Schule nahestehend, trat da auf und erinnerte sich später an einen Zuhörer, der nicht ins sich progressiv gebende Ambiente passte: „Abseits in der Ecke saß meist ein Mann von Mitte vierzig mit dichtem brünettem Haar und randloser Brille, korrekt gekleidet trotz offenem Hemdkragen unter der Jacke. Er hatte ein sympathisches Gesicht, beobachtete aufmerksam unsere akrobatischen Sprechakte und lächelte immer ein bisschen, so dass ich, wenn ich zu ihm hinüberblickte, ins Grübeln geriet, ob er unsere Darbietungen für gelungen hielt oder sich darüber lustig machte.“

Der stille Beobachter der Stuttgarter Schule

Dieser leicht skeptische Beobachter hieß Hermann Lenz. Mit dem, was bei Niedlich als zeitgemäße Literatur präsentiert wurde, verband ihn wenig. Von Max Benses gelehrten Höhenflügen, räumte er freimütig ein, habe er kein einziges Wort verstanden. Dennoch war Lenz neugierig genug, das ihm Fremde zur Kenntnis zu nehmen und Sympathie für einen wie Ernst Jandl zu entwickeln. Von seinem eigenen schriftstellerischen Weg wich er freilich keinen Millimeter ab.

Mitte der sechziger Jahre konnte Lenz bereits auf eine Anzahl von Publikationen verweisen. Als 23-Jähriger hatte er 1936 ein schmales Heft mit Gedichten veröffentlicht; 1947, aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt, ließ er die in Wien und Paris spielende Erzählung „Das stille Haus“ folgen, einen Stoff, an dem er gut zehn Jahre gearbeitet hatte.

Ein halbes Jahrhundert in der Birkenwalstraße

Als das Buch erschien, lebte Lenz wieder in der Birkenwaldstraße am Killesberg, auf engstem Raum zusammen mit den Eltern und seiner Frau Hanne, einer Kunsthistorikerin, die er ein Jahr zuvor geheiratet hatte. Dass er nach dem verhassten Weltkrieg und dem nicht minder verhassten nationalsozialistischen Regime ganz seinen Neigungen nachgeben und „freier“ Schriftsteller sein wollte, stand außer Frage – wenngleich sein Vater, ein bodenständiger Zeichenlehrer, seinen Sohn gern in einem habhafteren Beruf gesehen hätte. Geld war mit dem Schreiben wenig zu verdienen, doch Lenz und seine Frau, eine „Halbjüdin“, die in München nur knapp der Deportation entgangen war, empfanden erst einmal Freude darüber, einander wiedergefunden und überlebt zu haben. Hohe materielle Ansprüche besaßen sie nicht.

Lenz, der seine ersten elf Lebensjahre in Künzelsau, im hohenlohischen „Eulenkräut“, verbracht hatte, gehört zu Stuttgart wie kein zweiter Autor. Von 1924 bis 1975 lebte er hier; zwanzig Jahre arbeitete er als Sekretär des Süddeutschen Schriftstellerverbands. Er schrieb Buchkritiken für den Süddeutschen Rundfunk, Essays über die Straßen der Stadt und Romane wie „Der Kutscher und der Wappenmaler“, die die schwäbische Jahrhundertwende mit dem Wiener Fin de Siècle verbinden. Trotzdem rechnete man ihn nie zu Stuttgarts maßgeblichen Köpfen.

Schiffbruch bei der Gruppe 47

Gönnerhaft lobte man ihn als „Stillen im Land“, lächelte insgeheim über sein scheinbar hoffnungslos veraltetes Erzählen, wunderte sich, dass er die Ferien an immer demselben Ort im Bayerischen Wald verbrachte, und hielt ihn – der in Interviews zugab, mitunter Konrad Adenauer zu wählen – politisch für einen unsicheren Kantonisten. Dass er bei der Gruppe 47, als er 1951 bei einer Tagung im Welzheimer Wald lesen durfte, Schiffbruch erlitten hatte, passte ins Bild seiner Verächter.

Erbstreitigkeiten zwangen seine Frau und ihn, 1975 von Stuttgart nach München-Schwabing überzusiedeln. Der Roman „Seltsamer Abschied“ erzählt von diesem Trennungsschmerz. Was immer Lenz in Stuttgart an Geringschätzung erfuhr, geblieben wäre er dort gern – nachzulesen in seinem Gedicht „Erinnerung an Stuttgart“: „Dort hat es mir gefallen. Einundfünfzig Jahre lang / Hab ich in Stuttgart leben dürfen. Das genügt / Sagen die Leute, und das Schicksal denkt / Wahrscheinlich wie die Leute, weil es sonst / Mich nicht vertrieben hätte aus der Heimat.“

Von der Randfigur zur Vaterfigur

Als sich mit dem Wegzug endlich breite literarische Anerkennung einstellte – 1978 erhielt er den Georg-Büchner-Preis –, traute man in Stuttgart seinen Augen und Ohren nicht. Aus der Randfigur in Wendelin Niedlichs Buchladen, die in Gedanken gern mit Arthur Schnitzler über die Wiener Ringstraße schlenderte und sich auf den Philosophenkaiser Marc Aurel berief, wurde nach und nach, so der Germanist Manfred Durzak, eine „Vaterfigur“ der deutschen Gegenwartsliteratur.

In Stuttgart indes dauerte es lange, bis man seine Bedeutung erkannte. Wie zwiespältig Lenz’ Erinnerungen selbst waren, zeigt sich in seinem späten Roman „Freunde“ (1997): „Was für ein Glück du hast . . . Immer wieder begegnest du Menschen, denen du vertrauen kannst. Das ist halt München . . . Und er machte sich klar, dass er erst in München aufgeatmet hatte. In deiner Geburtsstadt, dort in Stuttgart, bist du allein gewesen.“

Lenz besaß eine staunenswerte Unbeirrbarkeit, ein immenses Zutrauen in sein Tun. Ohne den Zuspruch der „Großkritiker“ – Marcel Reich-Ranicki schrieb nie eine Zeile über ihn – schuf sich Lenz einen festen Leserkreis, der sich keinem ästhetischen oder ideologischen Lager zuordnen ließ. Franz Josef Strauß und Erhard Eppler, Jürgen Habermas und Hans Maier, Hanns-Josef Ortheil und Walter Helmut Fritz, Gottfried von Einem und Michael Krüger, Norbert Hummelt und Anna Katharina Hahn zählen zu seinen Bewunderern.

Die Entdeckung der autobiografischen Recherche

Zwei Zäsuren waren es, die Hermann Lenz’ Weg entscheidend beeinflussten. Nach einer Schaffenskrise in den fünfziger Jahren, die dazu führte, dass er zwischen der „Abenteurerin“ (1952) und dem „Russischen Regenbogen“ (1959) keine selbstständige Publikation vorlegte, entschloss sich der Fünfzigjährige, sich selbst ins Zentrum seiner Fiktion zu rücken und auf diese Weise von der „persönlichen Erfahrung zu einer Art Zeitbild“ zu kommen. „Verlassene Zimmer“ hieß der 1966 erschienene erste Band einer autobiografischen Recherche, die man nicht ganz zu Unrecht mit Marcel Proust verglich, mit jenem Autor, den Lenz schon als Student in den dreißiger Jahren (in der Übersetzung Walter Benjamins und Franz Hessels) las und der seine Poetik maßgeblich prägte.

Einem Geschichtsbild entsprechend, das die Gegenwart erst als vergangene begreift, lässt Lenz „Verlassene Zimmer“ im Württemberg der Jahrhundertwende einsetzen, ein gutes Jahrzehnt vor der Geburt seiner autobiografischen „Volksausgabe“ Eugen Rapp. Sich mit den eigenen Vorfahren, etwa dem Gablenberger Großvater Julius, auseinanderzusetzen hilft, sich selbst besser zu verstehen. Notwendig war es dabei, die Ich-Form zu meiden. Mit Eugen Rapp schuf sich Lenz ein Gegenüber, das in einen inneren Dialog mit sich selbst tritt – eine ideale Methode, sich in kreisenden Reflexionen auf die Schliche zu kommen.

Künzelsau, Weltkrieg und was danach kam

Die Rapp-Romane sind fraglos Hermann Lenz’ Hauptwerk. Sie schildern die Künzelsauer Kindheit mit den Urerfahrungen des Schreckens, die ein nie restlos zu tilgendes „Fremdheitsgefühl“ aufkommen lassen. Sie halten, wie in „Andere Tage“, den aufkommenden Nationalsozialismus im Stuttgart der zwanziger Jahre fest, und sie beschreiben (in „Neue Zeit“) auf unprätentiöse Weise, wie sich Eugen Rapp sechs Jahre als Soldat in Frankreich und Russland dadurch behauptet, dass er Rückzugsorte aufsucht, die seine Hoffnung „Wenn du nur durchkommst“ unterfüttern.

Rapp liest – Mörikes Gedichte natürlich –, er kritzelt in sein Notizbuch, und er versucht, sich jedes Detail, das ihm an der Front begegnet, einzuprägen: „Alles sehen, alles hören, alles spüren, alles riechen, was sich dir hier zeigt.“ Dieser Blickwinkel macht aus dem Roman eine dicht gedrängte Folge von Einzelszenen, die den Krieg ohne Überhöhung und in seinem banalen Schrecken zeigen. „Neue Zeit“ ist einer der wichtigsten Romane über den Zweiten Weltkrieg.

Peter Handke überzeugte Siegfried Unseld, Lenz zu verlegen

Zuerst erschien er im Insel Verlag. Lenz’ Hausverlag Jakob Hegner hatte Konkurs angemeldet, und alles deutete darauf hin, dass Lenz endgültig durch den Rost des ihn weitgehend ignorierenden Literaturbetriebs fallen würde. Bis sich – die zweite zentrale Zäsur in Lenz’ Schriftstellerlaufbahn – aus heiterem Himmel ein junger Befürworter fand. Ende Dezember 1973 veröffentlichte Peter Handke, bereits damals einer der auffälligsten deutschsprachigen Autoren, in der „Süddeutschen Zeitung“ den Essay „Tage wie ausgeblasene Eier“, der mit Verve und Einfühlungsvermögen zur Lenz-Lektüre einlud. Handke berichtete davon, wie er Lenz’ „Augen eines Dieners“ bereits 1965 gelesen und wie er den dreißig Jahre älteren Kollegen Anfang der siebziger Jahre besucht hatte. In Stuttgart fühlte sich Handke zwar „bedingungslos fehl am Platz“, doch zwischen ihm und dem Ehepaar Lenz entwickelte sich eine lange Freundschaft, die sich in vielen Besuchen und Briefen, gesammelt in dem Band „Berichterstatter des Tages“, niederschlug.

Vor allem aber überzeugte Handke seinen Verleger Siegfried Unseld, sich der Lenz’schen Werke anzunehmen. Von 1975 an erschienen diese bei Suhrkamp/Insel, und es ist keine verfehlte Spekulation, wenn man feststellt, dass ohne Peter Handkes Intervention Hermann Lenz heute ein vergessener Autor wäre und die Literaturwissenschaft ihn wohl kaum eines Blickes gewürdigt hätte.

„Vor deiner Haut beginnt die Fremde“

Den Rapp-Zyklus ergänzte Lenz durch Romane und Erzählungen, die das eigene Erleben auf andere Biografien übertragen, gleichsam Spiegelbilder entwarfen. Auf diese Weise suchte Lenz nach Beistand und nach Seelenverwandten – etwa im frühen 19. Jahrhundert, wo er seine Mörike-Erzählung „Erinnerung an Eduard“ spielen lässt, oder in der Wiener Jahrhundertwende, wo er in seiner feinen Novelle „Dame und Scharfrichter“ eine Gräfin, einen Scharfrichter und Kaiser Franz Joseph zu Akteuren macht, die die Dekadenz und die Neurasthenie ihrer Zeit hautnah spüren. Frauengestalten spielen dabei eine zentrale Rolle, etwa in der Trilogie „Der innere Bezirk“, wo es heißt: „Männern bist du immer aus dem Weg gegangen, von Frauen aber hast du dir etwas erhofft.“Fast in allen seinen Büchern zeichnet Lenz labile, auf dünnem Eis gehende Menschen, die sich gegen die Zumutungen der Zeit zu behaupten suchen. „Vor deiner Haut beginnt die Fremde“ lautet einer ihrer Kernsätze. Die Außenwelt bedrängt den Einzelnen, der sich nach einem dauerhaften „Einverständnis“ sehnt und es nie erlangt. Um die Verletzungen, die eine widerwärtige Gegenwart Lenz’ sich abschottenden Figuren zufügt, zu verkraften, unternehmen diese Anstrengungen, sich zu immunisieren – sei es durch das Eintauchen in eine Vergangenheit, die reiner scheint, weil sie keine Gegenwart ist, sei es durch die Lektüre (etwa von Stifters „Nachsommer“), sei es durch das Sichversenken in die Natur. Dort stellen sich seltene lichte Momente ein, dort steht die Zeit wenige Augenblicke lang still, dort empfindet man eine Ahnung von Transzendenz.

In seinem vielleicht kühnsten Roman „Der Wanderer“ (1986) beschreibt Lenz dieses Aus-der-Zeit-Fallen besonders eindringlich. Stärker als in den anderen Rapp-Texten verschwimmt die Chronologie; auf Reisen und Wanderungen verschwindet die Alltagsmühsal, und im Erzählen davon gehen die Zeitebenen ineinander über – zeitlos empfundenes Glück stellt sich ein.

Mit Eugen Rapp durchs eigene Leben

Hermann Lenz war ein Radfahrer, Spaziergänger und Wanderer, der Trauermäntel und Goldammern beobachtet (und bedichtet) hat, als sich kaum jemand für Trauermäntel und Goldammern interessierte. Doch auch wenn er mit seiner Frau Sommer für Sommer den Bayerischen Wald erwanderte, blieb er ein Einzelgänger. Hanne Lenz hat sich in einem Rundfunkinterview daran erinnert: „Mein Mann ist vorausgewandert, ich bin, in großen Abständen oft, hinterhergewandert. Jeder hat seine Gedanken mit sich herumgetragen, ab und zu sind wir stehen geblieben und haben miteinander geredet, und dann sind wir wieder weitergegangen.“

Kurz vor seinem Tod am 12. Mai 1998 gelang es Lenz, sein autobiografisches Romanwerk abzurunden. „Freunde“ ist der letzte Eugen-Rapp-Band betitelt, und darin zeigt sich, wohin dieses Labyrinth eines Lebens führte. Gänzlich „angekommen“ ist Hermann Lenz nie; zum bodenständigen, pragmatischen „Wirklichkeitsmenschen“ ließ er sich nicht formen, doch in München fand er vertrauensvolle Begleiter, die sein Gefühl, „nebendraußen“ zu stehen, abmilderten. Ganz anderen „Freunden“ begegnet Eugen Rapp übrigens seit Kurzem auf Facebook, wo er nun, auch mit einer Mailadresse, aus dem Jenseits grüßt. Freundschaftsanfragen beantwortet er wohlwollend. Was Hermann Lenz dazu wohl gesagt hätte? „Au net schlecht“ vermutlich.

Auf den Spuren von Hermann Lenz

Zur literarischen Führung am Stuttgarter Killesberg lädt Bernd Möbs am 23. Februar (Treffpunkt 15 Uhr, Hermann-Lenz-Höhe). Rainer Moritz stellt genau an Lenz’ Geburtstag am 26. Februar im Literaturhaus Stuttgart Leben und Werk des Schriftstellers vor. Sebastian Kowski liest ausgewählte Texte (20 Uhr). Im Museo in Stuttgart-Gablenberg sprechen am 19. April Anna Katharina Hahn, Rainer Moritz und Matthias Ulrich über Lenz und seinen in Gablenberg spielenden Roman „Verlassene Zimmer“; Ulrike Goetz rezitiert. Am 24. Februar wird in Künzelsau in der Hirschwirtscheuer die Ausstellung „Hermann Lenz – 100 Jahre“ eröffnet (bis 8. September). Im Insel Verlag erscheint die um unveröffentlichte Briefe der Eheleute Lenz erweiterte Neuausgabe des Romans „Neue Zeit“ und im Verlag Ulrich Keicher der 1943 zuerst publizierte Prosatext „Schwäbischer Lebenslauf“.