Jesiden werfen dem Irak und der kurdischen Regionalregierung vor, diese wollten verhindern, dass sie wieder im Sindschargebirge heimisch werden. Vor fünf Jahren begann der Völkermord.

Stuttgart - Der 3. August ist für die Jesiden weltweit ein Trauertag. An diesem Tag vor fünf Jahren hat im Nordirak der Völkermord an der ethnisch-religiösen Minderheit begonnen, die seit mehr als 800 Jahren dort beheimatet war. Die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) überfiel ihre Dörfer im Sindschargebirge. Die Dschihadisten erschossen tausende Männer, rekrutierten Jungen als Kindersoldaten, nahmen Frauen und Kinder mit und verkauften sie als Sklavinnen. Viele werden noch vermisst.

 

Inzwischen ist der IS militärisch besiegt. Doch was aus den Überlebenden werde, interessiere weder die irakische Zentralregierung in Bagdad noch die kurdische Regionalregierung, kritisierten Jesiden am Samstag bei der Gedenkveranstaltung in der Stuttgarter Liederhalle. Vor dem Massaker lebten in der Region Sindschar rund 600 000 Jesiden, heute sind es nach Schätzungen zwischen 40 000 und 80 000. Etwa 300 000 Jesiden harren in Flüchtlingslagern im Irak und Syrien aus.

Zurück in den Sindschar

Die Jesiden benötigten mehr politische Unterstützung, forderte Nobelpreisträgerin Nadia Murad. Noch mehr von ihnen müssten in ihre Heimat zurückkehren können, „um den Plan des IS zum Scheitern zu bringen, der vorsah, sie aus dem Sindschar zu vertreiben“. Sie müssten in der Lage sein, ihre Heimat wiederaufzubauen und sich zu schützen. Die 26-Jährige hatte bei dem Blutbad 2014 ihre Mutter und sechs Brüder verloren, sie selbst war verschleppt worden und konnte sich erst nach einigen Monaten befreien. Mit einem Sonderkontingent kam sie 2015 nach Baden-Württemberg. Mittlerweile engagiert sie sich als UN-Botschafterin für die Opfer von Menschenhandel und Sklaverei, 2018 wurde sie dafür mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

Baden-Württemberg hat 2015 und 2016 auf Initiative von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) rund 1000 besonders schutzbedürftige Frauen und Kinder aufgenommen, 100 fanden Zuflucht in Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Um weiteren Opfern zu helfen, fördert Baden-Württemberg in der nordirakischen Stadt Dohuk den Aufbau eines Instituts zur Ausbildung von Traumatherapeuten. Zudem unterstützt das Land Entwicklungsprojekte, die Flüchtlingen beispielsweise Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten bieten sollen. Für sein Engagement erhielt Baden-Württemberg am Samstag den Ehrenpreis des Zentralrats der Jesiden in Deutschland.

Korruption in Lagern?

„Die Zukunft der Jesiden ist nicht in den Lagern zu suchen, sondern ausschließlich in ihrer Heimat“, mahnte der Zentralratsvorsitzende Irfan Ortac. Die Regierungen in Erbil und Bagdad zeigten wenig Interesse daran, dass die Vertriebenen aus den Flüchtlingslagern in ihre Dörfer zurückkehrten. Denn „politische Akteure vor Ort“ profitierten von den Flüchtlingen. In der Lagerverwaltung sei die Korruption „ins Unermessliche gestiegen“. Deutschland habe für die Bekämpfung des IS und den Wiederaufbau mehr als eine Milliarde Euro bereitgestellt, bei den Flüchtlingen selbst sei allerdings kaum etwas angekommen. Nötig sei eine internationale Konferenz mit Beteiligung des Welt-sicherheitsrates.

Ortac erwartet aber auch weitere Unterstützung für Jesidinnen, für die es in ihrer Heimat keine Perspektive gibt. Das sind vor allem verschleppte Frauen, die Kinder von IS-Kämpfern haben. In Syrien leben schätzungsweise 250 Betroffene. Um in die jesidische Gemeinschaft zurückkehren zu können, müssten sie ihre Kinder verlassen, weil diese nach irakischem Recht und auch nach jesidischem Glaubensverständnis Muslime sind.

Die Ehre der Opfer

Jan Ilhan Kizilhan, der Leiter des Ausbildungsinstituts für Traumatherapeuten in Dohuk, behandelt mit seinem Team einige Frauen, die gezwungen wurden, ihre Kinder in Mossul oder Syrien zurückzulassen. „Sie leiden täglich darunter, und ihre Traumastörung hat sich dadurch noch verschlimmert“, berichtet er. Sie sollten vorrangig in Deutschland aufgenommen und behandelt werden. Kizilhan hofft aber auch, dass der Rat der Jesiden den betroffenen Frauen und Kindern eines Tages „doch noch Menschlichkeit, Toleranz und würdevolles Leben ermöglicht“, damit sie entscheiden können, wo und wie sie leben.

Das wünscht auch Baden-Württembergs Staatsministerin Theresa Schopper, die bei einem Besuch im Irak vor einigen Monaten auch mit den geistlichen Oberhäuptern der Jesiden über dieses Thema gesprochen hat. Nicht die Überlebenden sexueller Gewalt hätten ihre Ehre verloren, sondern die Täter, sagt sie. Viele Frauen aus dem Sonderkontingent seien auch wichtige Zeuginnen in den Strafverfahren der Generalbundesanwaltschaft.

Unterstützung für die Aufnahme weiterer Frauen gibt es inzwischen auch auf Bundesebene. In einem gemeinsamen Brief in der „Welt“ appellierten Grünen-Chefin Annalena Baerbock, der CDU-Bundestagsabgeordnete Volker Kauder und Bundestagsvizepräsident Thomas Oppermann kürzlich: „Wir wollen jene wenige Hundert besonders Schutzbedürftigen, allen voran jesidische Frauen und Kinder, die im Irak und in Syrien keine realistische Aussicht auf eine adäquate Behandlung (...) haben, in Deutschland aufnehmen“.