Baden-Württemberg hat die Vorschriften bei der sogenannten Ausbildungsduldung gelockert. Unternehmen, die Geduldete in ein Ausbildungsverhältnis aufnehmen, können künftig bereits sechs Monate vor dem Start der Lehre darauf vertrauen, dass ihre Azubis nicht mehr abgeschoben werden.

Stuttgart - Als ich die Ablehnung bekam, war ich acht Stunden lang wie bewusstlos. Was soll ich jetzt tun? Wohin soll ich jetzt gehen?“ Viele Fragen kreisten im Kopf des heute 19-jährigen Jawid R. (Name geändert), nachdem er im September des vergangenen Jahres von den Behörden aufgefordert wurde, Deutschland binnen vier Wochen zu verlassen.

 

Ein gutes Jahr später ist der 19-jährige Afghane, der in seiner Heimat als Logistiker für die Nato gearbeitet hat und aus Furcht vor der Rache der Taliban geflohen ist, noch immer da. Er spricht heute fließend Deutsch, hat in nur zehn Monaten seinen Hauptschulabschluss gemacht und über eine Einstiegsqualifizierung einen Ausbildungsplatz gefunden. Das Verwaltungsgericht hat nach einer Anhörung und quälend langen Monaten den Beschluss des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) aufgehoben. Der Afghane erhielt im September, nur wenige Tage vor dem Ausbildungsbeginn, eine dreijährige Aufenthaltserlaubnis. Wie es danach weitergeht, wissen weder er selbst noch sein Arbeitgeber.

„Wir sind auch zufrieden, wenn wir einen Mechaniker ausbilden, der später die Wasserversorgung in seiner Heimat instand setzen kann“, sagt sein Ausbilder, der aber weder seinen eigenen Namen noch den seines Unternehmens in der Zeitung lesen möchte. „Wir wollten ihn schon vor dem Abschiebebescheid behalten und haben ihm daher auch schon während seines Praktikums eine Lehrstelle angeboten, als noch nicht klar war, ob er bleiben kann.“

Kleine Betriebe sind auf Auszubildende angewiesen

Diesen pragmatischen Ansatz können sich vor allem große Unternehmen leisten, die ihr Engagement bei der Flüchtlingsintegration eher als gesellschaftliche Verpflichtung denn als Fachkräfterekrutierung verstehen. Kleine Betriebe, die dringend auf Nachwuchs angewiesen sind, denken anders. Sie überlegen es sich zweimal, ob sie das Wagnis eingehen, mit einem jungen Menschen einen Ausbildungsvertrag zu schließen, der die Lehre möglicherweise gar nicht mehr antreten wird.

Zuletzt haben Unternehmen und ihre Schützlinge zusätzliche Rechtssicherheit bekommen. So schließt beispielsweise die 3-plus-2-Regelung seit Juni dieses Jahres auch das sogenannte Berufsfachschuljahr ein. Das betrifft verschiedene Handwerksberufe, bei denen das erste Jahr der Ausbildung komplett in der Berufsschule absolviert wird. 3 plus 2 bedeutet: Lehrlinge dürfen für die Dauer einer dreijährigen Berufsausbildung sowie im Fall einer Übernahme für zwei weitere Jahre nicht abgeschoben werden.

Duldung liegt im Ermessen der Ausländerbehörden

Nach Recherchen dieser Zeitung besteht zudem seit Kurzem ein gesetzlicher Anspruch auf eine Ausbildungsduldung bereits für einen Zeitraum von zwei Monaten vor dem eigentlichen Ausbildungsbeginn. Im Rahmen von sechs Monaten vor dem Ausbildungsstart wird darüber hinaus eine Ermessensduldung erteilt, „soweit zu diesem Zeitpunkt konkrete Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung noch nicht eingeleitet wurden“, heißt es in einem Schreiben von Südwestmetall an die Mitgliedsfirmen, das dieser Zeitung vorliegt. Die sogenannte Einstiegsqualifizierung (EQ), ein sechs bis zwölfmonatiges Vorbereitungsprogramm auf eine Lehre, ist nach wie vor nicht von der 3-plus-2-Regelung umfasst. Der Arbeitgeberverband rät Betrieben daher, „sich möglichst früh über eine mögliche Übernahme in eine Berufsausbildung Gedanken zu machen“.

Südwestmetall-Geschäftsführer Stefan Küpper begrüßt es, dass die Unternehmen nun mehr Klarheit haben. Informationslücken aufseiten der Betriebe hätten in der Vergangenheit wiederholt zur Schockreaktion geführt, wenn ein Mitarbeiter einen Abschiebebescheid bekommen habe. „Sie wussten dann nicht, welche Rechtsmittel verfügbar waren“, so Küpper. Um die Betroffenen darüber aufzuklären, muss das Bamf seit wenigen Wochen jedem abschlägigen Asylbescheid ein Merkblatt anhängen, in dem Hinweise über die Bleibemöglichkeiten zusammengefasst werden.

Die Anweisungen an die Ausländerbehörden zur Auslegung des Integrationsgesetzes auf Landesebene resultieren aus regelmäßigen Gesprächen der sogenannten Task-Force „Flüchtlinge in Ausbildung“. Dazu gehören neben Innen- und Wirtschaftsministerium auch Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften, die Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit sowie kommunale Landesverbände. Einem Vertreter dieses Gremiums zufolge sind die Behörden mittlerweile auch angewiesen, Ermessensspielräume häufiger als in der Vergangenheit zugunsten von Betrieben und Azubis auszulegen: Das gilt etwa für die Anforderungen an die Betroffenen bei der Passbeschaffung. Geduldete ohne Pass sind verpflichtet, sich beim zuständigen Konsulat oder der Botschaft ihres Herkunftslandes um neue Papiere zu bemühen. Tun sie es nicht oder aus Sicht der Behörde unzureichend, kann ihnen die 3-plus-2-Regelung verwehrt werden.

Handwerkstag lobt Erleichterungen und kritisiert Fristen

Auch beim Baden-Württembergischen Handwerkstag (BWHT) begrüßt man die erreichten Erleichterungen. „Die Unsicherheit für Betriebe und Betroffene war immer unser Hauptkritikpunkt“, sagt Olaf Kierstein-Hartmann, Abteilungsleiter Bildungspolitik und Arbeitsmarkt beim BWHT. Einen aktuellen Fall, in dem ein Auszubildender abgeschoben wurde, kennt er nicht. Das könnte etwa geschehen, wenn der Betroffene falsche Angaben über seine Identität oder Herkunft gemacht hat. Dann würden ihm die Behörden die Beschäftigungserlaubnis entziehen. Dass dabei im Südwesten restriktiver vorgegangen würde als in anderen Bundesländern, glaubt er nicht. Bayern sei dabei die Ausnahme.

Wünschenswert wäre es aus Sicht des Handwerks, so Kierstein-Hartmann, wenn EQ-Praktikanten auch geschützt würden. Der BWHT dringt zudem auf kürzere und einheitliche Fristen für die vorhandenen Förder- und Unterstützungsmöglichkeiten. Der Kammervertreter nennt ein Beispiel: Bevor eine Person mit Duldung Berufsausbildungsbeihilfe beantragen kann, muss sie sich mindestens sechs Jahre ohne Unterbrechung in Deutschland aufgehalten haben. Für den jungen Afghanen Jawid R. ist das zu spät. Er könnte dann schon seinen Facharbeiterbrief in der Tasche haben.