Sie tragen Unterwäsche, singen von Liebe und Leid. Wenn das Landesmuseum geschlossen ist, erwachen nachts auf Sockeln und in Glasvitrinen sexuelle Fantasien. Den Umbau im Alten Schloss nutzen Künstler zur  Performance. 

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Stuttgart - Unten im Innenhof des Alten Schlosses sitzt Graf Eberhard im Bart auf seinem Pferd. Über 500 Jahre ist der erste regierende Herzog von Württemberg schon tot. Die Residenz  brachte er nach  Stuttgart und die Kehrwoche zu den Schwaben. Jeder Bewohner, verfügte er 1492,  möge seinen Mist einmal in der Woche aus der Stadt herauskarren. Was Sitte und Moral angeht, war er selbst nicht gerade ein Saubermann.

 

Prestigeträchtig hatte er  die oberitalienischen Markgräfin Barbara Gonzaga von Mantua geheiratet. Die  einzige Tochter aus dieser Ehe verstarb im Säuglingsalter. Eberhard hatte  Kinder „von ledigen Frauen außerhalb der Ehe geboren“,  wie  überliefert ist.  Mit der Treue hielten es weder die Herrscher noch die Untertanen  im ausgehenden Mittelalter so streng wie von der Kirche vorgegeben. Nicht mal die Geistlichen schafften es.   Während also der Graf unten auf dem  Pferd  hockt, geht’s oben im dritten Stock zur Sache.

Die Vielfalt lebt und leidet in dieser Nacht

Sängerinnen und Sänger der freien Stuttgarter Künstlergruppe Goldstaub tragen wallende Gewänder oder weiße Unterwäsche. Sie verzehren sich in Verzückungen, im Widerstreit der Empfindungen, sind hin- und hergerissen vom „Wankelmut“ ihrer Sexualität, die zu alle Spielarten mit „sehnsuchtsvollem Verlangen“ drängt, wie mit  Intensität und ergreifenden Stimmen gesungen wird. Mann-Frau, Frau-Frau, Mann-Mann – die Vielfalt lebt  und leidet in dieser Nacht. Beim Stationentheater folgt das Publikum den Akteuren in der großen Ausstellungsfläche des dritten Stocks. Einige Besucherinnen und Besucher  schleppen Hocker mit, andere stehen und staunen. Quer durch die Generationen haben sich Neugierige versammelt, bereit, sich auf Überraschendes  und Intimes einzulassen. 

Es geht ab im altehrwürdigen Gemäuer, was nicht überraschen kann. Denn als Motto hat das Landesmuseum drei Worte  mit Ausrufezeichen ausgegeben: „Hier geht was!“ Ein Jahr lang  werden sich Tanz, Theater und Performances auf der Fläche der nun pausierenden Sonderausstellungen präsentieren, wenn das Museum im Alten Schloss während des Umbaus im Erdgeschoss mit Einschränkungen leben muss.  Der Aufzug ruht baustellenbedingt. Alle müssen in den dritten Stock hochlaufen.

Der Soundtrack zu Pornos der damaligen Zeit

Das Stück „Wankelmut der Herzen“, das sich mit Liebe und Sexualität in verschiedenen Epochen befasst,  hat am Freitagabend Premiere vor einem überwiegend begeisterten, aber mitunter auch verwunderten  Publikum gefeiert  – mit der Musik  von  Claudio Monteverdi, der die  Musik im 17. Jahrhundert revolutionierte und erotische Opern verfasste. „Seine Musik könnte man als  Soundtrack zu Pornos der damaligen Zeit bezeichnen“, sagt  Regisseur Jeffrey Döring. Natürlich nur „könnte“. Denn Pornos auf Smartphone gab es damals noch nicht.  Aber schon damals hat Amor Wunden geschlagen, mit süßen Pfeilen, wenn es gut lief. „Wer ein altes Feuer löschen will, macht es unsterblich“, wird auf Italienisch gesungen. 

Wer die Nähe aushält, sich nicht an der   Offenheit der musikalisch großartigen  Künstlergruppe stört und zum Wankelmut und zum Mitmachen bereit ist, kann acht weitere Goldstaub-Aufführungen noch bis zum 25. August erleben. Vielleicht will Graf Eberhard auch noch wissen, was da oben abgeht. Und steigt dann ab vom Pferd, um dem  nächtlichen Treiben zu folgen. Nachts im Museum weiß man nie.