Als verspäteter Weihnachtsmann entkleidet sich ein Poet immer weiter. Doch gegen Frauenpower hat er im Climax keine Chance. Andrea Maria Fahrenkampf siegt beim Erotik Slam, der zu den Höhepunkten des Stuttgarter Nachtlebens zählt.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Stuttgart - Auf der Scheibe, die den Raucherraum vom Rest des Clubs trennt, steht: „Who the Fred is Fuck?“ Wer dieser Fred ist, kann der Menschheit egal sein. Ohne das andere würde es die Menschheit aber gar nicht geben. Mit dem anderen ist das eine gemeint – das eine Thema, das Umsätze ankurbelt und ewig lockt.

 

Der erfolgreichste Poetry Slam von Stuttgart ist der Erotik Slam. Wer Karten dafür kaufen will, muss dies Monate im voraus tun. Veranstalter Thomas Geyer, ein alter Hase im Poetengewerbe, gibt die Termine in aller Regel drei Monate vor dem Ereignis bekannt. Kaum stehen die Termine im Netz, sind alle Plätze weg.

Mit seinen Peniskeksen ist er nicht zufrieden

Für den fünften Stuttgarter Erotik Slam im Climax Institutes hat Geyer, der sich auch mit der Partyreihe „Kaputtraven“ einen Namen gemacht hat, Peniskekse gebacken. Zufrieden ist er damit nicht. „Ich kann nicht backen“, entschuldigt er sich backstage. Der Mann hat andere Talente. Er ist bestens vernetzt in der deutschen Slamszene und wählt Kandidaten so gut aus, dass der Wettstreit im Kessel mit den Themen Erotik, Sex und Liebe nicht abrutscht, sondern auf Niveau bleibt. Unterste Schublade ist nicht, was tief unter der Calwer Straße abgeht.

Das oft tobende Publikum, das dicht an dicht im plüschig und glitzernd ausstaffierten Keller einer Clubinstitution sitzt, weiß dies. Fremdschämen muss sich auch an diesem Abend keiner. Dabei ist es immer ein schmaler Grat, wenn sexuelle Erlebnisse und Vorlieben in Worte gepackt und beschrieben werden. Das kann peinlich werden.

Auf der Bühne hat man ihm mal die Boxershorts runtergezogen

Peinlich ist wo anders, sagt der Heidelberger Poet Daniel Wagner, der im Outfit des sexy Weihnachtsmanns auftritt. Peinlich war’s in Augsburg, wie er später im kleinen Kreis berichtet. Immer mehr Klamotten lässt Santa Claus im Climax fallen. Anders als bei den „normalen“ Slam-Veranstaltungen, wo Kostümierung nicht erlaubt ist, dürfen die Wettkämpfer bei der Erotik-Version anziehen oder ausziehen, was sie wollen. Am Ende steht Wagner, der sonst eher politisches Kabarett macht, in Boxershorts vor dem Goldvorhang. In Augsburg, erzählt er backstage, hat ihm mal die Konkurrenz bei einem Erotik Slam eben diese Boxershorts auf offener Bühne in pubertärem Übermut runtergezogen. Er stand völlig nackt da.

Eigentlich war’s ein so traumatisches Erlebnis, dass er nie wieder bei Literaturveranstaltungen dieser Art antreten wollte, ja, dass er sich geradezu davor gefürchtet hat. Gegen Albträume – jeder Psychologe weiß es - hilft aber nur die Therapie, sich der Angst auslösenden Situation zu stellen. Wagner, der vor einigen Jahren deutscher Slam-Meister war, tut dies in Stuttgart mutig und äußerst lustig. So schnell redet er sich in Rage, bis es dem Publikum schwindelig wird bei all den Wortspiel-Drehungen und Wendungen. Das Versprechen, noch mehr auszuziehen, sollte er ins Finale kommen, hilft ihm allerdings nicht. Ins Finale ziehen nur Frauen ein.

Spermaflecken werden gedeutet wie Figuren beim Bleigießen

Oder hat es Daniel Wagner geschadet, dass er den schwäbischen Dialekt als „Verhütungsmittel“ bezeichnet und „die Wasen“ sagt ? Noch früher raus ist sein Münchner Kollege Max Osswald, der bildhaft vorträgt, wie er mit der Freundin Spermaflecken auf dem Laken gedeutet hat, als seien es Figuren beim Bleigießen. Auch in den Pausen vor dem Halbfinale und Finale ist der Erotik Slam dank der Gesangseinlagen von Burlesque-Tänzerin Belle Larouge reizvoll.

„Weiß jemand nicht, was ein Dick-Pic ist?“

Verstehen Frauen von Erotik mehr – und erst recht von der poetischen Übersetzung des Schönen? Eine der Finalistinnen ist Andrea Maria Fahrenkampf., „Kennt ihr Tinder?“ fragt sie. Ihre nächste Frage lautet: „Weiß jemand nicht, was ein Dick-Pic ist?“ Nicht alle wissen es. „Dick-Pics sind Teil des modernen Paarungsverhaltens von Männern“, erklärt die Poetin aus Saarbrücken, „man macht Fotos vom Genital und will Frauen damit überzeugen, mit ihnen zu schlafen.“ Da hört bei Andrea Maria Fahrenkampf der Spaß auf. In ihrem bitterbösen Text erzählt sie, wie sie einen Dick-Pic-Versender in aller Öffentlichkeit bloßgestellt hat. In eine Falle lockte sie ihn, machte ein erbärmliches Foto seiner Halberektion, und beim Rest der Geschichte freut man sich, wie es einen an entscheidender Stelle schlaffen Macho trotzdem so richtig hart getroffen hat.

Der G-Punkt ist das Gehirn

Das Publikum ist begeistert und feiert die Poetin aus Saarbrücken als Siegerin. Im engen Outfit bittet sie, man möge keine Nippelfotos machen, falls es gleich möglich sei, welche zu machen. Wer derartiges bei Facebook postet, wird bekanntlich in dieser Plattform gesperrt. Andrea Maria Fahrenkampf ist so knapp gekleidet, dass sie nicht ausschließen mag, es könne was rausfallen. Alles bleibt drin. Mit sehr schönen und bildhaften Beschreibungen von Lust überzeugt sie die Jury. „Meine Liebe ist nicht nur für Männer“, so outet sich die Slammerin und beweist: Wer über poetische Kraft verfügt, kann, um beim Publikum zu landen, auf Späße unter der Gürtellinie verzichten. Es könnte also sein: Sex beginnt im Kopf, der G-Punkt ist das Gehirn.