170 Millionen Menschen auf der Welt zieht es heute Abend vor die Fernseher: Wer setzt sich im Finale des Liederwettbewerbs durch? Denkwürdige Begegnungen und starke Eindrücke aus der Woche in Kopenhagen von StZ-Redakteur Jan Ulrich Welke.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

Kopenhagen - Wer durch die Innenstadt von Kopenhagen schlendert, mag kaum glauben, dass es irgendwo auf der Welt auch Elend und Unrecht gibt. Pittoreske historische Häuschen treffen auf atemraubende zeitgenössische Architektur. Die Straßen sind so blitzsauber, dass jede schwäbische Hausfrau vor Neid erblassen würde. Nirgendwo ein Bettler, nahezu keine Raucher, alle radeln auf mustergültigen Wegen entweder zum Vergnügungspark Tivoli oder zu durchdesignten Straßencafés, in denen man für umgerechnet sieben Euro einen Kaffee trinkt.

 

Selbst wenn weit und breit kein Kind in der Nähe ist, bleiben alle Kopenhagener bei Rot an der Ampel stehen. Und sollte doch jemals einer überfahren werden, kann er sich sicher sein, von einem maximal drei Jahre alten Auto ins Grab gebracht worden zu sein. Rostlauben gibt es nämlich auch keine.

Zweifel am sorgenfreien Leben in der siebtteuersten Stadt der Welt melden sich allenfalls beim Blick auf die Plakate. Die Europawahl steht an, die Parolen sind eindeutig. „EU-Faschismus“ stoppen, keinesfalls den Euro stützen oder gar anstelle der dänischen Krone einführen, mehr Rechte fürs Land und weniger für die Staatengemeinschaft – das brüllen die protektionistischen Botschaften. Immerhin: überall in der Stadt flattern auch Wimpel mit dem ESC-Logo, einem funkelnden Diamanten mit dem Slogan „Join us“. Er stehe, so die Veranstalter, für die Vielfalt Europas.

Tausend Mal „Is it right?“

Auch an der Bushaltestelle vor dem Club Vega hängen die Papptafeln mit den Wahlbotschaften. Drinnen in der – selbstredend eleganten – Discolounge hat am Mittwoch die deutsche Botschaft zum Empfang geladen.

Der Geschäftsträger Michael Zenner, immerhin ein studierter Germanist, entfaltet einen Zettel, von dem er holprig abliest. Er spricht den Namen Elaiza dreimal falsch aus, adressiert jedoch an das Trio, dass „euer Song wirklich ganz, ganz toll ist“. Des weiteren verweist er darauf, dass Deutschland „das Reiseziel Nummer Eins“ der Dänen sei, ehe er zügig seinen Zettel wieder zusammenfaltet und die Bühne, wie er sagt, „für die drei Mädels“ freigibt.

Auf dass die Damen nun das tun können, was sie bei unzähligen Proben und Repräsentationsterminen schon getan haben und auch weiterhin noch ungezählte Male tun werden: ihr Lied „Is it right?“ spielen. Die Kontrabassistin Natalie Plöger, die es in gemächlichem Tempo über das ostfriesische Leer und das ostwestfälische Detmold nach Berlin und von dort aus in rasender Geschwindigkeit nach Kopenhagen gebracht hat, knipst ihr notorisch beseelt-beglücktes Lächeln an. Und dann intoniert das Trio zum gefühlt tausendsten Mal seinen Song.

Einige Beiträge sind „richtig scheiße“

Tags drauf schwebt die deutsche Expertenjury ein. Beim Fotoshooting in einem Café im Tivoli zeigen deren Mitglieder Jennifer Wiest (von der Band Jennifer Rostock) und der Rapper Sido mit stolzgeschwellten Hälsen, dass sie von ihren Zehnerkarten fürs Tätowierstudio offensichtlich Gebrauch gemacht haben.

Der Berliner Hip-Hopper wird gefragt, wie ihm denn das Niveau der Beiträge gefalle: „Es gibt viele tolle Sachen. Aber auch einige, die richtig scheiße sind. Wenn man das hier sagen darf.“ Man darf, wir befinden uns ja in einem weltoffenen Land, in dem’s nur selten an Niveau mangelt.

Mehr Größe zeigt die faktisch kleine Elaiza-Sängerin Elzbieta Steinmetz, die in einem blauen Poncho artig auch dümmlichste Journalistenfragen zum hundertersten Mal beantwortet, ansonsten aber angenehm zurückhaltend ist. Die Akkordeonistin Yvonne Grünwald, die man in ihrem Straßenoutfit nicht erkannt hätte, versichert derweil tapfer, dass es dem Trio mitnichten etwas ausmachen würde, jeden Tag zigfach das immer gleiche Lied zu spielen, weil ihr Songcontestbeitrag schließlich „überall abgefeiert“ werde.

Dann lenkt das Jurymitglied Andreas Bourani ein wenig die Aufmerksamkeit der Meute auf sich, während die drei Frauen von Elaiza abseits auf der Terrasse des Cafés stehen, ihre Blicke ein wenig durch den Vergnügungspark schweifen lassen und dabei so wirken, als wären sie richtig erleichtert, endlich mal nicht „Is it right?“ singen zu müssen.

Mogelpackung im Irgendwo

Am Freitagmorgen steht fest, dass neben der Berliner Schuhverkäuferin Elzbieta Steinmetz auch der Türsteher einer Heavy-Metal-Bar aus dem norwegischen Bergen im heutigen Finale singen wird – und dass es dabei im doppelten Sinne um die Wurst geht. Die Zeitungen mokieren sich über die 24 üppigen Dieselgeneratoren, die vor der Arena den Saft für die Veranstaltung liefern, die als umweltfreundlich verkauft wird. Und der Rundfunk kontert angesäuert, dass es sich um eine Show mit 170 Millionen Zuschauern handele, die man nicht mit dem Strombedarf eines Hotdogwagen vor dem Hauptbahnhof betreiben könne.

Die Halle erreicht das Publikum, indem es mit einem Linienbus eine Stunde lang aus dem Zentrum anreist und sich den Weg über einen sandigen Pfad und eine schäbige Straße bahnt. Der sich dann auftuende Klotz ist eine Mogelpackung – es passen weniger Besucher rein als in die Stuttgarter Schleyerhalle. Davor, auf der Industriebracheninsel Refshaleøen, schäumt die Ostsee in diesen verregneten Tagen von Kopenhagen.

Bei guter Sicht kann man auf die Øresundbrücke schauen. Sie führt ins schwedische Malmö, wo im vergangenen Jahr der Song Contest stieg – und vielleicht, wer weiß, auch im nächsten Jahr. Die Buchmacher sehen die Schwedin Sanne Nielsen vorne. Sie singt als dreizehnte. Direkt im Anschluss an Elaiza, die wiederum gleich nach unserem erklärten Liebling Conchita Wurst ins Rennen gehen.