Am Abend dürfen die ARD-Zuschauer den deutschen Beitrag für den Eurovision Song Contest in Stockholm wählen. Unsere Prognose: Das wird mal wieder nix.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Köln - Wer soll Deutschland am 14. Mai in Stockholm beim diesjährigen Eurovision Sing Contest vertreten? Die deutschen ESC-Fans seufzen an dieser Stelle tief. Sie fühlen sich seit langer Zeit als traditionelle ESC-Verlierer. Dabei ist die nationale Grand-Prix-Bilanz objektiv betrachtet so übel nicht: In der sechzigjährigen ESC-Geschichte hat die ARD immerhin schon zweimal gewonnen: Nicole 1982 mit dem Titel„Ein bisschen Frieden“ und Lena 2010 mit „Satellite“. Da am Wettbewerb vierzig Länder und mehr teilnehmen, ist die Bilanz des Ersten statistisch betrachtet also ganz in der Norm.

 

Doch der aktuelle Leidensdruck im Publikum und bei den Verantwortlichen im federführenden NDR ist enorm. In den jüngsten drei Wettbewerben schnitten die deutschen Titel blamabel ab: Die wuchtige Cascada kam 2013 nur auf Platz 21, das nymphenhafte Mädchentrio Elaiza 2014 auf Platz 18, die sichtlich überforderte Ann Sophie landete 2015 mit null Punkten gar auf dem letzten Platz. Und alle drei Auftritte waren derart blass und bemüht, dass sie den Weg ins ESC-Finale niemals geschafft hätten, wenn das deutsche Fernsehen nicht aufgrund des Reglements von vornherein für die Endrunde qualifiziert gewesen wäre.

Nun versucht es das Erste an diesem Donnerstagabend in Köln mal wieder mit der ganz großen Nummer: Zehn Kandidaten stellen sich mit zehn Titeln dem Votum der Zuschauern an den Telefonen und im Internet. Der NDR-Unterhaltungschef Thomas Schreiber verspricht eine „ganz wilde Mischung“ der Musikstile von Pop und Rock über Schlager bis zum gregorianischen Mönchsgesang. Die Interpreten heißen Ella Endlich, Jamie-Lee Kriewitz, Joco oder Chor Gregorian. Die meisten haben nie zuvor von ihnen gehört, aber alle seien sie natürlich, so das öffentlich-rechtliche Versprechen, „unglaublich talentiert und heiß auf den Grand Prix“. Mit anderen Worten: im derart bunten Allerlei muss doch bitte irgendwas dabei sein.

Doch auch in diesem Jahr steht der deutsche ESC-Beitrag von vornherein unter keinem guten Stern. Die Kölner Show sollte eigentlich nie stattfinden. Thomas Schreiber hatte im Herbst im Alleingang den Mannheimer Popsänger Xavier Naidoo zum deutschen Vertreter in Stockholm küren wollen. Die Fans reagierten aber derart allergisch gegen den von vielen als allzu fromm und politisch ungelenk auftretenden Naidoo, dass Schreiber einen peinlichen Rückzieher machen und doch wieder auf die Vorauswahl-Wundertüten-Nummer ausweichen musste.

In Schweden läuft das alles besser

„Wundertüte“ heißt: der NDR macht einen Rundruf bei den Agenturen und Plattenfirmen und bittet um Freiwillige. Was dabei herauskommt, ist somit kein Konzept, sondern Wahllosigkeit, eben eine „wilde Mischung“ lauter, Pardon, No-Names. Und hinter einer jungen Sängerin namens Laura Pinski versteckt sich dann auch prompt der eigentlich vor Jahren schon aus dem deutschen Wettbewerb vertriebene Schlagerfürst Ralph Siegel.

Der deutsche ESC-Fan kann nur neidvoll sehen, wie es anderswo zugeht – Beispiel Mans Zelmerlöw, der im vergangenen Mai mit dem Poptitel „Heroes“ souverän den ESC in Wien gewann. Die Vorentscheide im schwedischen Fernsehen sind richtig große, populäre Shows, über Monate vorbereitet. Die international erfolgreichen Produzenten des Landes engagieren sich mit arrivierten Künstlern. Ergebnis: alle Erstplatzierten dieser nationalen Show hätten auch im internationalen Wettbewerb beste Chancen auf vordere Plätze. Niemand würde hier auf die Idee kommen, mit Spaßnummern unsicherer Nachwuchskräfte sein Renommee aufs Spiel zu setzen.

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Just hier verbirgt sich seit Jahren das Grundproblem des deutschen Vorentscheids. Der Eurovision Song Contest gilt in der deutschen TV-Landschaft noch immer als Schlagerwettbewerb: „Dschingis Khan“ auf ewig. Dieses Image wird er in Deutschland nicht los, obwohl im internationalen Contest schon seit rund 15 Jahren praktisch keine Schlager mehr zu hören sind. Dass eine große internationale Show mit einem weltweiten Publikum einerseits ein buntes, unterhaltsames, spaßiges, manchmal auch witziges Unterfangen sein kann, dass andererseits wirklich gute Unterhaltung aber stets und erst einmal mit Kreativität, Professionalität und Ernsthaftigkeit auf die Beine gestellt werden muss (die letztjährige ESC-Finalshow in Wien war dafür das beste Beispiel), das will die ARD einfach nicht glauben.

Stefan Raab hat das Prinzip begriffen

Der einzige, der in jüngerer Zeit diese Idee verinnerlicht hatte, war Stefan Raab. Mit sehr viel Ehrgeiz hat er 2010 das junge Talent Lena entdeckt und so lange an ihrem Titel und ihrer Performance gefeilt, dass ihr schließlich das Publikum zu Füßen lag. Lenas Erfolg war alles andere als ein Zufall. Es war das Ergebnis kreativer, professioneller, sehr ernsthafter Arbeit. Wollen wir nicht ausschließen, dass heuer in Köln ein ähnliches Talent zu finden ist. Ob das Erste aber genügend Ideen hat, dieses Talent in zehn Wochen zu einem Grand-Prix-Favoriten aufzubauen, darf bezweifelt werden.

Den Fans bleibt immerhin ein Trost: die Schweden werden in Stockholm den Rahmen für eine tolle Gala liefern. Mans Zelmerlöw wird moderieren.