Bevor die elektrische Glühlampe unsere Welt erobert hat, brannten zischend kleine Flammen in Laternen. Der Autor und Übersetzer Joachim Kalka entzündet die Leuchtmittel der Viktorianischen Epoche.

Stuttgart - Die augenblicklich geführte Auseinandersetzung um die letzten Gaslaternen Berlins und anderswo hat klar gemacht, dass – wusste man es? – die Reste der Gasbeleuchtung in unseren Städten noch nicht ganz abgeschafft sind. Wie bei vielem uns Selbstverständlichem tut sich bei zufälligem Anlass ein Spalt in die Vergangenheit auf.

 

Dass wir nachts durch hell oder zumindest einigermaßen beleuchtete Straßen gehen, ist eine recht späte Errungenschaft der urbanen Zivilisation. Der Klerus von Köln soll sich unter Napoleon gegen die Einführung der ständigen Straßenbeleuchtung gewandt haben, weil hier die für die Welt gesetzte Ordnung des Wechsels von Licht und Finsternis durchbrochen werde – das scheint uns lächerlich, enthält aber, wenn nicht eine Wahrheit, so doch eine ungeheure Erinnerung. Den Prozess der technisch wie administrativ langsamen, stockenden Durchsetzung einer regulären Straßenbeleuchtung hat vor dreißig Jahren Wolfgang Schivelbusch in seiner meisterhaften Studie „Lichtblicke – Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert“ (1983) nachgezeichnet.

Generationenlang waren sie selbstverständlich

Die Gasbeleuchtung tritt im neunzehnten Jahrhundert an die Stelle von Fackeln und Öllampen und wird im Allgemeinen schließlich weitgehend von der Elektrizität verdrängt, hält sich aber in avancierten Formen (etwa dank des Auerschen Glühstrumpfs) noch lang. Nicht die durchaus reizvolle Chronik der technischen Innovation – die Gaslampe kommt ohne den Docht aus, die Elektrizität ohne die Flamme – soll hier mit einem kurzen Blick gestreift werden, sondern die Mythologie, die wir in Büchern und Filmen von den gasbeleuchteten Straßen und Häusern besitzen, die besondere Leuchtkraft einer auratischen historischen Erinnerung.

Die vertraut „richtige“ Form der Straßenbeleuchtung durch Gas wird die Laterne auf metallenem Pfahl. Sie zeigt sich als einer jener Alltagsgegenstände, die generationenlang von der Selbstverständlichkeit zweiter Natur waren, bis sie dann – wie die Telefonzelle – mit wenigen historisierenden Ausnahmen verschwanden. Eine kleine Meditation über die solide Hässlichkeit der gusseisernen Straßenlaterne findet sich bei Gilbert Keith Chesterton.

Typisches Beispiel: Gilbert Keth Chesterton

Zu Beginn seines Romans „Der Mann, der Donnerstag war“ haben sich zwei Poeten – Syme und Gregory – auf einer abendlichen Gartengesellschaft über Philosophie gestritten. Syme tritt schließlich auf die Straße. „Direkt vor der Türe stand eine Straßenlaterne, deren Glanz die Blätter des Baumes vergoldete, der sich über den Zaun hinter ihm neigte.“ Er sieht neben der Laterne Gregory stehen, der ihn mit eisiger Höflichkeit um ein Gespräch bittet. Worüber? „Gregory führte mit seinem Stock durch die Luft einen Hieb in Richtung der Laterne, und dann einen gegen den Baum. ‚Über das und das!’ rief er, ,über Ordnung und Anarchie! Da haben Sie Ihre kostbare Ordnung, diese magere Eisenlampe, hässlich und steril, und da haben wir die Anarchie, üppig, lebendig, sich selbst fortzeugend – da steht die Anarchie, herrlich in Grün und Gold.’ ‚Nichtsdestoweniger, erwiderte Syme geduldig, ‚können Sie jetzt den Baum nur im Licht der Lampe sehen. Ich frage mich, wann Sie jemals die Laterne im Licht des Baumes erblicken würden.’“

Das Nebeneinander von Laterne und Baum muss Chesterton inspiriert haben, denn es findet sich in einer der Pfarrer-Brown-Geschichten wieder („The God of the Gongs“, aus der zweiten Sammlung „The Wisdom of Father Brown“). Sie beginnt mit der Schilderung eines düsteren Wintertages und der „. . . flachen Küste von Essex, deren Monotonie noch unmenschlicher war, weil sie in sehr langen Abständen von einem Laternenpfahl unterbrochen wurde, der unzivilisierter wirkte als ein Baum, oder von einem Baum, der hässlicher war als ein Laternenpfahl.“

„Lieben Sie den aus Gas und Orangen vermeng-ten Theatergeruch, den Klang des stimmenden Orchesters, den Anblick, wie das Rampenlicht plötzlich aufleuchtet?“

                  Arthur Machen, Far Off Things

In Walter Benjamins Beschreibung der bürgerlichen Wohnungen „der sechziger bis neunziger Jahre“ des neunzehnten Jahrhunderts in „Einbahnstraße“, wo der berühmte Satz fällt: „Auf diesem Sofa kann die Tante nur ermordet werden“, ist das zarte und insistente Geräusch der Gasbeleuchtung das abschließende Detail der Schilderung des Interieurs „mit seinen riesigen, von Schnitzereien überquollenen Büffets, den sonnenlosen Ecken, wo die Palme steht, dem Erker, den die Balustrade verschanzt, und den langen Korridoren mit der singenden Gasflamme . . .“ 

Trotzdem denkt man bei dem Wort „Gasflamme“ heute wohl eher an die Straßen der Großstadt, insbesondere die Straßen des viktorianischen London. „Ich war gestern Abend in einem Haus beim Regent’s Park, und als ich aufbrach, da kam es mir, zu Fuß nach Hause zu gehen anstatt einen Wagen zu nehmen. Es war auch eine klare, angenehme Nacht, und nach ein paar Minuten hatte ich die Straßen fast für mich. Es ist eine seltsame Sache, Austin, nachts in London allein zu sein, wenn die Reihen der Gaslaternen sich perspektivisch dehnen und völlige Stille herrscht, und dann vielleicht plötzlich das Klappern und Sausen einer Kutsche auf den Pflastersteinen, und die Funken, die unter den Hufen stieben.“ (Machen, „The Great God Pan“, 1894)

Chiffre unserer mythischen Erinnerung

In solchen Sätzen wird die Gasbeleuchtung zur Signatur einer Epoche – beziehungsweise zur Chiffre unserer mythischen Erinnerung an einen historischen Zeitabschnitt. Das neunzehnte Jahrhundert prägt sich gegen sein Ende, verkörpert in Sherlock Holmes und Jack the Ripper, besonders auratisch aus. Die Qualität, die ihm für uns vor allem eignet, ist trotzdem ein großes, komfortables Sicherheitsgefühl, das durch die Evokation des Unheimlichen nur stärker hervortritt.

„An einem denkwürdigen Morgen im frühen Dezember schlug London die Augen in einem eisigen grauen Nebel auf . . . Von Bow bis Hammersmith zog ein missfarbener, elender Dunst daher, wie das Gespenst eines mittellosen Selbstmörders, der unmittelbar nach seiner Tat ein Vermögen geerbt hat.“

Israel Zangwill, The Big Bow Mystery, 1891

Die natürliche Umgebung des Gaslichts unserer Mythologie ist der Nebel (so, wie das Neonlicht den Regen herausfordert - Franz Josef Degenhardt: „Es regnete in Neonfarben . . .“).

In Dickens’ Roman „Bleak House“ dient der Nebel in den Straßen von London – sinnfällig gewordene Logik des alles einhüllenden und auslöschenden Gerichtsverfahrens, das Hauptgegenstand der Handlung ist – als Symbol für würgende Verlangsamung. Wir haben uns so sehr an den Nebel als theatralische Kulisse des Spannungsromans und des Kriminalfilms gewöhnt, dass es lohnt, sich zu vergegenwärtigen, wie erstaunlich der Londoner Nebel seinerzeit (das heißt: bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg) wirklich sein konnte, ehe sich der Himmel durch Verordnungen zum Heizmaterial und technische Innovationen aufzuklären begann. Diese historische Erinnerung sucht man allerdings am praktischsten wiederum in der Detektivgeschichte auf.

Der Leser wird tief in den Nebel geführt

Der Titel einer doppelbödigen Kriminalerzählung – eigentlich ist es ein winziger Rahmenerzählungszyklus – von Richard Harding Davis, die 1902 in drei Folgen im Windsor Magazine erschien, lautet „In the Fog“. Tatsächlich führt sie den Leser tief in den Nebel. Einer der Erzähler, der bei einem Bekannten zu Abend gegessen hat, hört, als er langsam aufbrechen möchte, den Dienstboten längere Zeit vergeblich nach einem Wagen pfeifen. Kein Fahrzeug kommt. Streiken die Kutscher? Nein – der Freund ist ans Fenster getreten: „‚Sie haben noch nie einen Londoner Nebel gesehen, oder?’ fragte er. ‚Kommen Sie. Das ist einer der besten beziehungsweise der schlimmsten.’ Ich trat zu ihm ans Fenster, konnte aber gar nichts wahrnehmen. Hätte ich nicht gewusst, dass das Haus auf die Straße ging, hätte ich gedacht, ich blicke auf eine leere Mauer. Ich zog das Fenster hoch und streckte den Kopf hinaus, konnte aber immer noch nichts sehen. Selbst das Licht der Straßenlampen gegenüber und der oberen Fenster im Kasernengebäude war vom gelblichen Dunst erstickt. Das Licht der Lampen im Zimmer, wo ich stand, drang nur bis einige Zoll vor meinen Augen in den Nebel ein.“ Der Gast bricht auf und hofft, nach den genauen Anweisungen seines Freundes durch Entlangführen der Hand an Mauern und Parkgittern seinen Weg durch das Stadtviertel zu finden, doch natürlich verläuft er sich und steht hilflos in der Nebelmasse. „Über mir konnte ich eine Gasflamme ausmachen, die wohl von einer Straßenlaterne kam, und ich ging hin und hielt – während ich versuchte, mich von neuem zurechtzufinden – den metallenen Laternenpfahl fest. Außer diesem Flackern des Gaslichts, nicht größer als meine Fingerspitze, konnte ich nichts ringsum erkennen.“ Selten ist das intime Ineinander von Gaslicht und Nebel so präzise beschrieben worden. „Gott segne den Laternenanzünder! Denn das Ende seines Dämmerungsfleißes ist nahe, und nicht mehr lang werden wir ihn die Straße entlangrennen und in bemessenen Abständen wieder ein leuchtendes Loch ins Zwielicht schlagen sehen.“

  R. L. Stevenson, Plädoyer für Gaslaternen
Lange nach Beginn einer anderen Epoche lebten die Reize der viktorianischen Lebenswelt kolportagehaft fort. Patrick Hamilton, der mit seinen Romanen wie „Hangover Square“ ganz der aggressiven Tristesse der dreißiger Jahre angehört, hat nebenbei ein seinerzeit berühmtes Bühnenstück verfasst: „Gaslight“ (1938), dem er den Untertitel gab: „A Victorian Thriller in Three Acts”. Ein kleines technisches Detail durchglüht dieses mehrfach verfilmte Stück: Wenn man in einem Haus mit Gasbeleuchtung in einem Zimmer das Gas aufdrehte, sank anderswo, wo es schon brennen mochte, die Flamme entsprechend ein wenig herab.

Was verbirgt Mr. Manningham?

Die große Szene am Schluss des ersten Aktes von „Gaslight“ enthüllt, dass „Gaslicht“ nicht nur eine auratische Metapher für das düstere Haus und das düstere Leben von Mrs. Manningham ist, sondern zur ingeniösen Mechanik der Handlung gehört: „Was ist denn, Mrs. Manningham?“ – „Still! Seien Sie still! Er ist zurück! Sehen Sie! Sehen Sie das Licht! Es sinkt! Warten Sie!“ (Pause, das Licht wird schwächer) „Liebe Zeit. Wie seltsam das ist. Wie seltsam in der Tat.“ Und im dritten Akt, als die Erlösung naht, treibt der väterliche Detektiv Rough, der Mrs. Manningham zu Hilfe gekommen ist, nun seinerseits ein kleines Katz-und-Maus-Spiel mit dem bösen Ehemann: „Entschuldigen Sie, Manningham, aber haben Sie auch wie ich den Eindruck . . .“ „Welchen Eindruck?“ „Den Eindruck, dass das Licht in diesem Zimmer schwächer wird.“ „Ich habe nichts bemerkt.“ „Doch . . . sicherlich . . . Da!“ (Das Licht wird schwächer) „Fast unheimlich, nicht wahr? Jetzt sind wir beinahe im Dunkeln . . . Woher kommt das wohl? Meinen Sie, man hat anderswo ein Licht angezündet? Könnte es sein, dass Fremde im Haus sind?“

Könnte es sein, dass Fremde im Haus sind? Dieser Satz, den hier das noch einigermaßen frühe zwanzigste Jahrhundert probeweise ins neunzehnte zurückruft, hallt wider von unserer neo-viktorianischen Angstlust. Wir setzen uns immer noch gerne ein wenig dem Gefühl aus, dass „Fremde im Haus“ sind, allerdings sehnen wir uns auch nach der – verschollenen – Zusicherung, dass uns nichts geschehen wird, dass am Ende das Licht wieder ruhig brennt. Die Gegenwart bietet hierfür keine Gewähr mehr, schon lange nicht. Das Gaslicht leuchtet mit dem seltsamen nebelhaften Nimbus eines Zeitalters herüber, das unheimlich war und doch – es ist lange her – Sicherheit versprechen durfte.