Die „Spiegel“-Affäre ist mehr als eine Anekdote aus der Frühzeit der Republik. Als vor 50 Jahren die Redaktion besetzt wurde und die Redakteure verhaftet wurden, zeigte sich, dass die Regierung Adenauer ein zentrales Prinzip des Rechtsstaats nicht verstanden hatte: das der Meinungsfreiheit.

Stuttgart - In gewisser Weise war es des „Spiegels“ größte Stunde, als vor fünfzig Jahren Bundesanwälte und Polizei in Hamburg die Redaktionsräume besetzten und führende Redakteure verhafteten. Das Nachrichtenmagazin hatte den Obrigkeitsstaat, der noch in der neuen Demokratie steckte, herausgefordert und stand nun symbolhaft für Presse- und Meinungsfreiheit. Fortan verbanden sich mit der „Spiegel“-Affäre große Begriffe. Sie sei die Geburtsstunde der kritischen Öffentlichkeit gewesen, habe das Ende des Obrigkeitsstaates eingeläutet, die junge Demokratie gefestigt und die Achtundsechziger-Revolte vorbereitet. Nicht von ungefähr rühmte sich das Magazin jetzt mit einem Erinnerungstitel: „Als die Deutschen lernten, ihre Demokratie zu lieben.“

 

Jüngere Historiker, die damals noch gar nicht geboren waren, sehen das etwas anders. Der Mythos vom Sieg des kritischen Journalismus über den autoritären Staat scheint ihnen überhöht. Der Konsensjournalismus der fünfziger Jahre, zu dem nur der „freche“ „Spiegel“ eine Ausnahme gebildet habe, sei schon damals nicht die Regel gewesen. Eine kritische Öffentlichkeit habe sich früh in der neuen Republik gebildet. Die Liberalisierung der Gesellschaft sei schon vorher zu beobachten gewesen. Ebenso die Kritik an Adenauers patriarchalischem Führungsstil und am Atomkurs der Regierung. Nicht zuletzt hatte das Bundesverfassungsgericht 1958 mit seinem für die Meinungsfreiheit grundlegenden Lüth-Urteil der Presse verfassungsrechtlichen Rückhalt gegeben mit dem Satz: „Erst im Widerstreit der in gleicher Freiheit vorgetragenen Auffassung kommt die öffentliche Meinung zustande.“

Der Schock, gerade bei den Jüngeren, saß tief

Was junge Historiker ihren Unterlagen jedoch nicht entnehmen können, das ist der Schock, den die Menschen empfanden, als sie am Abend des 26. Oktober 1962 die Polizeireaktion gegen den „Spiegel“ im Fernsehen beobachten konnten. Insbesondere die Jüngeren, die noch Krieg und Nachkriegszeit erlebt hatten und mit der neu entstehenden Demokratie große Hoffnungen verbanden, fürchteten plötzlich die Wiederkehr dessen, was sie für überwunden glaubten. Vielleicht war der „Spiegel“ als die kritischste Stimme im Lande erst der Anfang? Welche demokratiefernen Kräfte standen hinter der Aktion?

Diese Angst um die junge Demokratie trieb auch jene um, die den Herausgeber Rudolf Augstein und sein Magazin nicht sonderlich schätzten. Sie wollten die freie Meinung, die zwölf Jahre unterdrückt worden war, nicht schon wieder verlieren. Deshalb protestierten so viele Professoren und Schriftsteller, deshalb versammelten sich die Studenten und forderten die Freilassung der inhaftierten Journalisten. Die Demokratie war noch keineswegs gefestigt, und nun zeigte sie eine obrigkeitliche Fratze als Folge eines Zusammenspiels von Politik, Ministerialbürokratie und Justiz.

Als die politischen Lager sich sortierten

Das Erschrecken darüber, dass man den Rechtsstaat aushebeln konnte, findet sich so nicht in den Papieren der nachgeborenen Historiker, aber es war da und erklärt die Intensität des Protests. Hinzu kam, dass nahezu alle Medien sich mit dem „Spiegel“ solidarisierten und den Übergriff verurteilten. Der Zeithistoriker Hans-Peter Schwarz nennt das in seiner Adenauer-Biografie etwas verächtlich die „Kameraderie“, die hier gewirkt habe.

Das konservative Lager wehrte sich auch sonst. Es gehe nicht darum, die Freiheit gegen die staatliche Autorität zu schützen, sondern umgekehrt um den Schutz der Autorität vor einer zügellosen, chaotischen Freiheit, sagte der damalige baden-württembergische Ministerpräsident Kurt-Georg Kiesinger. Getragen von vaterländischem Empfinden, veröffentlichte der namhafte Freiburger Historiker Gerhard Ritter in der „Frankfurter Allgemeinen“ einen Leserbrief, in dem er die „Spiegel“-Redaktion eine „Journalistengruppe von höchster Verschlagenheit“ nannte und fragte: „Gibt es in unserer schwatzhaften Demokratie überhaupt keine Möglichkeit mehr, militärische Geheimnisse vor dem Sensationshunger der Allzuvielen und vor dem Geschäftsinteresse der Sensationsblätter zu schützen?“ Wenig später entgegnete ihm an gleicher Stelle sein jüngerer Kollege Karl Dietrich Bracher, Ritter rechtfertige „den verhängnisvollen traditionellen Obrigkeitsstaat in Deutschland auf Kosten der Demokratie, in der wir eben die ersten Schritte tun“.

Die neue Journalistengeneration hielt nichts viel von „Konsens“

Neu für die Bonner Republik war jedenfalls die Mobilisierung der Öffentlichkeit, die erstaunlich breit gefächerte Phalanx der Medien und deren spontane Solidarisierung. Gleichsam über Nacht wurden die Konturen eines regierungskritischen Lagers sichtbar, das durchaus heterogen war, aber im Widerstand gegen den obrigkeitlichen Rechtsbruch über Monate hinweg zusammenfand. Das war insofern nicht erstaunlich, als eine neue Journalistengeneration schon in den fünfziger Jahren – und insoweit ist den jüngeren Historikern Recht zu geben – die Abkehr vom bis dahin üblichen Konsensjournalismus betrieb.

Sie war mental anders geprägt, hatte einen anderen Erfahrungshorizont als die Vorgängergeneration. Sie hatte nicht mit geschmeidiger Anpassung in der Hitlerzeit als „Schriftleiter“ gedient. Sie musste den aufrechten Gang nicht erst einüben. Das Kriegsende hatten diese Journalisten meist als blutjunge Soldaten erlebt, wie Rudolf Augstein, und nun wollten sie den zweiten Anlauf zur Etablierung einer deutschen Demokratie nach Kräften unterstützen, auch und gerade durch die Anprangerung von Missständen, die das Projekt gefährden konnten. Gegen die Älteren mussten sie sich oft in harten Konflikten durchsetzen, weil diese ein Zuviel an Freiheit fürchteten und lieber den Mantel des Schweigens über die Fehlgriffe der Politiker, der Behörden, des Staates und nicht zuletzt der Bundeswehr breiten wollten. Es gab damals schon eine hohe „Dichte der Skandale“ (Hans-Ulrich Wehler), und da war die „Spiegel“-Affäre keineswegs der Auftakt, wohl aber der Höhepunkt.

Die Privatfehde hinter der staatlichen Überreaktion

Wie kam es zu dieser Überreaktion des Staates, und warum richtete sie sich ausgerechnet gegen das Hamburger Magazin? Nun, der „Spiegel“ stand von Anfang an für das, was man früher die „Pressfrechheit“ nannte. Bei konservativen Politikern, in der Beamtenschaft und der Justiz war er höchst unbeliebt. Die Tragweite des Grundrechts auf Meinungs- und Pressefreiheit hatte man noch nicht realisiert.

Jedoch drängt sich die Frage auf, weshalb Bundeskanzler Konrad Adenauer und sein Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß ein so großes Interesse daran hatten, auf das ungeliebte Blatt loszugehen. Im Nachhinein ist man geneigt, von einer Privatfehde zu sprechen, und in gewisser Weise war es das auch.

Der Politologe Iring Fetscher hat im Jahr 2000 über die Frühzeit des „Spiegels“ gesagt: „Wir haben damals Augstein linker gelesen, als er war.“ Den Ruf, links zu sein, hatte Augstein als Kommentator gegen Adenauer erworben, dem er rheinisch-separatistische Tendenzen unterstellte. Sodann bekämpfte er Adenauers Bemühen, die Bundesrepublik in den Westen einzubinden. Diese Politik verhindere die Wiedervereinigung, argumentierte Augstein. Auch deshalb wandte er sich entschieden gegen eine Wiederaufrüstung im Rahmen westlicher Bündnisse. Wenn Westdeutschland neutral bleibe, werde die Sowjetunion zur Freigabe der DDR bereit sein. Und deshalb trat er auch dafür ein, über die Stalin-Note von 1952 zu verhandeln, was Adenauer aber schroff ablehnte. Augstein war kein Nationalist, wohl aber dachte er national, ähnlich wie der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher oder der damalige Journalist und spätere SPD-Politiker Egon Bahr.

Augstein, ein großer Bewunderer des Reichsgründers Bismarck, verkannte die Situation und überschätzte die deutschen Möglichkeiten im Ost-West-Konflikt. Am Ende hat Adenauers „Westlösung“ zur deutschen Einheit geführt. Älter und erfahrener geworden, hat der „Spiegel“-Herausgeber Adenauer im Nachhinein Recht gegeben. Aber in den fünfziger Jahren war Augstein einer der schärfsten Gegner von Adenauer, der deshalb den „Spiegel“ ein „Drecksblatt“ nannte.

Augstein war enttäuscht von Strauß

Als Strauß 1957 Verteidigungsminister wurde, hatte Augstein gewisse Erwartungen, denn Strauß war kein Freund Adenauers. Er sah in ihm sogar einen möglichen Kanzler-Nachfolger, der Bajuware hatte Witz und eine humanistische Bildung, die derjenigen Augsteins entsprach. Doch bei einem Trinkgelage im Hause Augsteins enthüllte sich Strauß als Gegner der Sowjets, denen entschieden entgegengetreten werden müsse. Hatte man da einen gefährlichen Machtmenschen eingeladen?

Augstein erkannte, dass Strauß taktische Atomwaffen in eigener Verfügungsgewalt anstrebte, um die Sowjets von einem örtlichen Vorstoß abzuschrecken. Strauß hegte, darin de Gaulle vergleichbar, ein tiefes Misstrauen gegen die Amerikaner. Sollte Moskau es nur auf Deutschland abgesehen haben – würden dann die USA das selbstmörderische Risiko eines nuklearen Weltkriegs eingehen? Wohl bedingt durch seine Kriegserfahrungen war Augstein ein Mann, der sich schnell fürchtete und immer mit dem Schlimmsten rechnete. Die Pläne des Verteidigungsministers beunruhigten ihn zutiefst, und deshalb schrieb er eine Titelgeschichte, in der er mit dem CSU-Vorsitzenden abrechnete. Dieser Artikel war eine Kriegserklärung.

Die Geschäfte des Herrn Minister

Fortan war der „Spiegel“ bemüht, Strauß’ Ruf zu schaden. Gelegenheit bot die Anfälligkeit des Ministers für undurchsichtige Geschäfte. Da war die Fibag-Affäre, in der es um Soldatenwohnungen ging. Sodann ging es um die Bereicherung bei Rüstungsgeschäften, in denen ein Nenn-Onkel von Strauß’ Frau Marianne („Onkel Aloys“) eine Rolle spielte. Aber in beiden Affären fehlte dem Magazin der letzte Beweis, und die Geschichten über Strauß’ Verfehlungen begannen die Leser anzuöden.Schließlich wollte man den Minister treffen, indem man seine Kompetenz infrage stellte. Den geeigneten Anlass dazu bot das Nato-Manöver „Fallex 62“, das den Beginn des Dritten Weltkrieges durchspielte. Die dabei zu Tage getretenen Mängel der Bundeswehr qualifizierten sie als nur „bedingt abwehrbereit“. Der Kernsatz in der Manöverkritik der Nato lautete: „Mit Raketen anstelle von Brigaden und mit Atomgranatwerfern anstelle von Soldaten ist eine Vorwärtsverteidigung der Bundeswehr nicht möglich, eine wirksame Abschreckung bleibt fraglich.“ Augstein regte einen Artikel an, mit dem er Strauß zu Fall bringen wollte. Hintergrundinformationen lieferte der Oberst im Generalstab Alfred Martin, der die Atompläne seines Ministers ablehnte.

Karlsruhe hat nur auf das Verteidigungsministerium gehört

Strauß hatte nun endlich den Vorwand, den er brauchte, um gegen den „Spiegel“ vorzugehen. Ihm kam gelegen, dass Oberstaatsanwalt Siegfried Buback bei der Bundesanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts von Geheimnisverrat eingeleitet und das Verteidigungsministerium um Amtshilfe gebeten hatte. Ein Gutachten, das aus dem Ministerium nach Karlsruhe ging, listete 41 Gesetzesverstöße auf. Hier sah der Staatssekretär Volkmar Hopf seine Chance. Er übte Druck auf die Bundesanwaltschaft aus, gegen den Hamburger Verlag vorzugehen. Der Adenauer-Biograf Hans-Peter Schwarz nennt ihn einen Beamten „von altem Schrot und Korn“. Tatsächlich war Hopf ein Mann, der seine Karriere als junger Nationalsozialist 1933 begonnen hatte. Damals hatte er den Deutschen Städtetag gleichgeschaltet, am geltenden Recht vorbei. Ihm wird das Wort zugeschrieben, es sei höchste Zeit, „dem ,Spiegel‘ endlich das Maul zu stopfen.“Als Strauß „energische Maßnahmen“ gegen den Artikel gefordert hatte, dachte Adenauer zunächst nur an gesetzgeberische Maßnahmen gegen publizistischen Rufmord und gab einen Gesetzentwurf in Auftrag. Doch den Anschlag gab beim Kanzler das Wort „Landesverrat“. Der Verdacht des Verrats militärischer Geheimnisse muss bei ihm tiefen Abscheu ausgelöst haben. Auch sah er die Bündnisfähigkeit der Bundesrepublik in Gefahr. Erschwerend kam nun noch die Kuba-Krise hinzu, und die Furcht vor einem atomaren Weltkrieg. Wohl deshalb gab er Strauß freie Hand und stimmte zu, den eigentlich zuständigen Bundesjustizminister Wolfgang Stammberger zu übergehen, weil der, wie Strauß behauptete, seinen FDP-Parteifreund Augstein vor dem Zugriff hätte warnen können. Die Nacht-und-Nebel-Aktion vom 26. Oktober hätte nur vom Justizminister angeordnet werden können, und es ist bis heute nicht hinterfragt worden, weshalb die Bundesanwaltschaft ohne dessen Zustimmung gehandelt hat. Hörte man in Karlsruhe nur auf Volkmar Hopf?

Die Affäre läutete das Ende von Adenauers Kanzlerschaft ein, der dabei auch noch ein merkwürdiges Amtsverständnis offenbarte. Zu seiner Zeit als Staatsanwalt, so sagte er, sei die Überwachung der Presse doch selbstverständlich gewesen. Der „Spiegel“ selbst hatte keineswegs leichtfertig gehandelt. Wohl wissend um die Brisanz des Textes, hatten die Redakteure ihn Fachleuten zur kritischen Überprüfung vorgelegt, unter ihnen Helmut Schmidt, der danach selbst in das Visier der Justiz geriet.

Chronik eines Skandals

8. Oktober 1962
„Bedingt abwehrbereit“ istder Titel eines Artikels über die Bundeswehrin der „Spiegel“-Ausgabe 41/1962.

26./27. Oktober
Die Polizei besetzt und durchsucht die Redaktionsräume in Hamburg und Bonn. Mehrere Redakteure werden verhaftet, der Herausgeber Rudolf Augstein stellt sich und wird in Untersuchungshaft genommen. Heftige öffentliche Proteste sind die Folge.

19. November
Alle FDP-Minister verlassendie Regierung Adenauer. Franz-Josef Strauß kündigt daraufhin seinen Rücktritt an. Adenauer bildet seine letzte Regierung und stellt seinen Rückzug für Herbst 1963 in Aussicht.

7. Februar 1963
Augstein kommt als letzterder inhaftierten „Spiegel“-Redakteure frei.