Wir müssen nicht gleich voreinander auf die Knie fallen, aber einigermaßen gutes Benehmen ist doch nicht zu viel verlangt. Was sagt es über eine Gesellschaft aus, wenn Rücksichtnahme immer unwichtiger wird – und manche Höflichkeit erst in einem Kurs lernen müssen?

Lokales: Sybille Neth (sne)

Stuttgart - Kürzlich in einer Kunstausstellung: Vor der Wand mit einer Videoinstallation stehen zwei Sitzbänke. Auf einer sitze ich – und nur ich. Ein Pärchen schlendert heran und stellt sich zielgenau vor mich. Ich sehe nichts mehr.

 

Muss das sein? Die Szene steht für mehr als nur ein kleines Ärgernis, ist sie doch eines von vielen Erlebnissen dieser Art, die man – so zumindest ein gefühlter Eindruck – im Alltag immer häufiger erleben muss. Im Supermarkt zum Beispiel, wenn sich am Kühlregal kommentarlos ein fremder Arm an der eigenen Nase vorbei reckt, weil sein Besitzer jetzt und sofort jenen Joghurt haben will und nicht warten kann. Oder wenn die Frau mit der Schnupfnase ihre Bazillen just über dem Regal mit den Salatköpfen ins Taschentuch schnäuzt. In der überfüllten Straßenbahn versperrt derweil ein breitbeinig sitzender Mann den Zugang zu einem freien Platz am Fenster. Im anfahrenden Zug mault er auf die Bitte, zu rutschen: „Steigen Sie halt drüber!“

Weshalb ist der Ton so rau geworden?

Unfreundlichkeit, Ruppigkeit, Pöbelei und Rücksichtslosigkeit: Weshalb ist der Ton in der Öffentlichkeit so rau geworden? Weshalb gehen wir so gedankenlos und respektlos miteinander um? Von den unerbittlichen Nachbarschaftsstreitigkeiten oder den Hasskommentaren in sozialen Netzwerken über die lebensgefährliche Missachtung der Regeln im Straßenverkehr bis hin zu den Handgreiflichkeiten gegen Ärzte, Sachbearbeiter und Polizeibeamte – jeder Bereich unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens scheint davon betroffen zu sein. Ist der Wunsch nach Höflichkeit hoffnungslos spießig und nicht mehr zeitgemäß in einer scheinbar so freizügigen Gesellschaft, die den legeren Umgang pflegt und sich von allen Konventionen verabschiedet hat?

Es geht hier nicht um den Dress Code für bestimmte Anlässe, nicht um komplizierte Regeln, wer wem in welcher Situation zuerst die Hand reicht. Obwohl der Wortursprung tatsächlich mit dem Verhalten am Hofe zu tun hat, definiert der Duden Höflichkeit heute als gesittetes Benehmen, als Zuvorkommenheit. Der Philosoph Immanuel Kant sah sie im Bund mit Toleranz, Mitleid, Rücksicht und Großzügigkeit: als eine Haltung. Goethe verstieg sich gar dazu, sie als „in ihren Maximen und Reflexionen der Liebe verwandt“ zu charakterisieren.

Eines steht jedenfalls fest: Ein höflicher Umgangston macht das Leben sehr viel angenehmer. Wer nach einem Langstreckenflug völlig übernächtigt am Flughafen die Dame am Infoschalter nach den Intercityanschlüssen fragt, wäre zwar nicht schlauer, wenn diese sagen würde: „Tut mir leid, da sind sie bei mir falsch“, statt zu raunen: „Hier ist nur Airline!“ – aber der Reisende wäre ein klein wenig glücklicher.

Es geht um mehr als um ein gutes Gefühl

Der in Deutschland lebende äthiopische Prinz Asfa-Wossen Asserate schrieb in seinem Buch „Manieren“: „Die Aufmerksamkeit ist ein derart wichtiger Bestandteil der Manieren, dass man gelegentlich die Begriffe dafür austauscht und einen höflichen Menschen aufmerksam nennt“, schreibt Asserate. Die vielen Regeln, wer vor wem aufstehen muss, zählen wenig für den Aufmerksamen: „Er steht immer auf“, fordert Asserate. Ähnlich sah das bereits der Vater des guten Benehmens, Adolph Freiherr Knigge, in seinem Werk „Über den Umgang mit Menschen“ (1796): „Interessiere Dich für andere, wenn Du willst, dass andere sich für dich interessieren.“

Tatsächlich geht es beim Umgang miteinander um weit mehr als um ein gutes oder ungutes Gefühl. Es geht um die Art unseres Zusammenlebens, um Achtung und Respekt, um Hilfsbereitschaft und Empathie. Der Sozialphilosoph Oskar Negt schreibt: „Werden Konkurrenz, Wettbewerbslust und Rücksichtslosigkeit im Umgang mit Menschen untereinander zu Tugenden deklariert, dann verändert sich zusehends das vorherrschende Menschenbild einer Gesellschaft.“ Deshalb leben wir offenbar heute mehr gegen- als miteinander. Die Maxime lautet „Mach Dein Ding“- egal, ob dabei jemand auf der Strecke bleibt. Anstand, Skrupel und Rücksichtnahme zahlen sich nicht mehr aus – Egoismus und Ignoranz dagegen lohnen sich.

Ist der Mensch von Natur aus ein Rüpel?

Der Journalist Jörg Schindler hat sich in seinem Buch „Die Rüpel-Republik“ eingehend mit der Verwahrlosung der Umgangsformen auseinandergesetzt. Seine Beobachtungen reichen dabei von der Politik bis auf den Fußballplatz. Schindler zitiert Umfragewerte über den Wohlfühlfaktor hierzulande: 1999 fanden 42 Prozent der Befragten, dass das Klima immer eisiger werde. 2003 waren es schon 52 Prozent, vier Jahre später 58 Prozent. „Deutschland hat die besten Jobs und die unfreundlichste Bevölkerung“, lautet das Ergebnis einer groß angelegten Studie mit 14 000 so genannten Expatriates, also hochqualifizierten Menschen, die aus beruflichen Gründen auf Zeit hier leben und arbeiten. Deutschland belegt dabei unter 67 Ländern Platz 17. „Zum kühlen Wetter kommt der frostige Empfang“, lautet der nüchterne Erklärungsversuch der Autoren.

Ist der Mensch von Natur aus ein rücksichtsloser Rüpel und Egoist – oder ist er von Grund auf gut? An den beiden Menschenbildern, wie sie die Philosophen Thomas Hobbes und Jean-Jacques Rousseau einst diametral unterschiedlich beschrieben haben, scheiden sich die Geister. Hätten die Menschen nicht gelernt, respektvoll und vernünftig miteinander umzugehen, hätten sie wohl bis heute das Rad nicht erfunden, argumentieren die Anhänger der Rousseauschen Lehre.

Ist Hilfsbereitschaft angeboren?

Der Anthropologe und Verhaltensforscher Michael Tomasello zeigt anhand einer Reihe von Videoclips mit Kleinkindern, die am Max-Planck-Institut in Leipzig gedreht wurden, dass die Hilfsbereitschaft vielleicht doch angeboren ist. Ein Baby robbt herbei, um einer Frau einen heruntergefallenen Stift zu reichen. Ein Kleinkind hilft beim Öffnen eines Schrankes, weil der voll beladene Mann es alleine nicht schafft. Das alles geschieht unaufgefordert. Dreijährige assistieren sich gegenseitig, wenn sie konkurrierend eine Aufgabe lösen sollen. Der Sündenfall in Tomasellos Versuchsaufbauten trat ein, als er begann, Gratifikationen zu verteilen. Jene Kinder, die keinerlei Belohnung für ihre Hilfsbereitschaft bekamen, behielten diese Eigenschaft uneingeschränkt bei. Die anderen Kinder jedoch, die für jede Gefälligkeit ein Spielzeug erhalten hatten, halfen nur noch dann, wenn ihnen zuvor eine Belohnung in Aussicht gestellt wurde. Soziales Verhalten ist ansteckend. Was wir schon immer ahnten, haben Forscher von der Universität Florida nun auch wissenschaftlich bewiesen. Sie gingen in einer Studie der Frage nach, ob sich Unhöflichkeit im Berufsalltag überträgt. Dafür wurden unter anderem 90 Doktoranden beobachtet, wie sie mit Kommilitonen verhandelten. Wer seinen Verhandlungspartner im Anschluss an die Übung als unhöflich bewertete, wurde von nachfolgenden Partnern häufiger selbst als unhöflich bewertet. Schon die Begegnung mit einem einzigen unhöflichen Menschen zeigt also eine negative Wirkung – und zwar nicht nur dem Unhöflichen, sondern auch allen anderen gegenüber.

Eltern sollen Werte vermitteln

Erwachsene sind Vorbilder, die wichtigste Erziehungsinstanz ist die Familie. Aber wenn Eltern selbst Toleranz, Achtsamkeit, Respekt, Manieren und Rücksichtnahme nicht gelernt haben, können sie diese Werte nicht weiter vermitteln. Werden Kinder also automatisch zu kleinen Egoisten? Schlechtes Benehmen ist salonfähig geworden. Ein Eindruck, den bestimmte Fernsehshows bestärken, bei denen Mobbing unter dem Gejohle des Publikums belohnt wird. Und wer verbietet den Erwachsenen beim Essen auf dem Smartphone herumzuspielen – oder andere durch lautstarkes Telefonieren in der Öffentlichkeit zu Zeugen ihrer Familienstreitigkeiten zu machen? Knigge postulierte einst: „Eine der wichtigsten Tugenden im gesellschaftlichen Leben ist die Verschwiegenheit.“ Und weiter: „Niemand sollte in der Öffentlichkeit bloß gestellt werden.“ Daran sollten sich manche in ihrem hektischen Alltag öfter einmal erinnern.

Es ist erstaunlich, dass heute zugleich das Erlernen von Benehmen bei Tisch aber beispielsweise sehr angesagt ist. Ein ganzer Geschäftszweig ist entstanden. Es gibt etliche Apps mit Titeln wie „Etikette für Businessleute“, „Etikette für Kinder“ oder das Pocket-Quiz „Knigge zum Üben“. Lehrer für gute Manieren sind gefragt. Inge Wolf, die Benimm-Päpstin und Vorsitzende des Bielefelder Arbeitskreises „Umgangsformen International“ sagt aber, worauf es ankomme, sei in erster Linie Empathie. Jeder Mensch habe dieselbe Wertschätzung verdient. Und: „Ein Mensch kann die perfektesten Tischmanieren haben und zugleich, mit Verlaub, das größte Schwein sein.“

Es entsteht ein Vertrauensverlust

Vielleicht ist es also doch nicht ganz so verwunderlich, dass manche Leute Manieren in einem Kurs lernen wollen – wie Vokabeln, die man auswendig lernen muss. Wer von sich aus kein Mitgefühl und keine Empathie empfindet, dem ist das Prinzip der Rücksichtnahme sicher fremd. Er kommt nicht von selbst darauf, wie höfliches Benehmen aussehen könnte.

Der Verfall der Umgangsformen – das prominenteste Beispiel ist der US-Präsident Donald Trump – verursacht einen allgemeinen Vertrauensverlust. Das Sicherheitsgewerbe, professionelle Streitschlichter und die Ratgeberliteratur lebt davon. Der Soziologe Emile Durkheim beschrieb 1893 einen gesellschaftlichen Zustand, in dem gemeinschaftliche Normen verschwinden, die Gruppenmoral ins Wanken gerät und soziale Kontrolle kaum noch vorhanden ist. Als Folge davon skizzierte er die Grundzüge einer Gesellschaft mit steigender Selbstmordrate, mehr Scheidungen, Kirchenaustritten, Bindungslosigkeit, zunehmenden psychischen Erkrankungen, Vereinzelung und der Zunahme von Gewalt. Die Folgen seien andauernde Unzufriedenheit und Angst, so Durkheim. Ein Schilderung, die auch die Gegenwart meinen könnte.

Anstatt jedoch dem Kern dieser gesellschaftlichen Phänomene eingehender nachzuspüren, versucht die Wissenschaft, das Vertrauen auf andere Weise wiederherzustellen. In Tierversuchen mit Mäusen haben Forscher herausgefunden, dass der Botenstoff Oxytocin Stress abbaut und prosoziales Verhalten fördert. Eine Firma in Florida hat daraufhin sogleich „Liquid Trust“ – flüssiges Vertrauen – als Spray auf den Markt gebracht. Verkehrte Welt.