Das Esslinger Gemeindehaus am Blarerplatz feiert seinen 90. Geburtstag – wegen Corona mit einem Jahr Verspätung. Dabei geht es viel um ereignisreiche Zeiten, in denen das Gebäude eine wichtige Rolle gespielt hat – aber auch um die Zukunft des „Neuen Blarer“.

Esslingen - Vor einigen Jahren stand die Zukunft des Gemeindehauses am Blarerplatz auf der Kippe. Die Evangelische Kirche dachte über einen Verkauf nach, das Gebäude wurde sogar als Standort für die neue Stadtbücherei gehandelt. Diese Pläne sind nicht mehr aktuell. Stattdessen startet das „Neue Blarer“ als Haus der Begegnung, der Musik und der Kultur hoffnungsvoll in die Zukunft. Ganz bewusst sucht die Kirche dabei den Schulterschluss mit der Stadtgesellschaft. Wesentlich zum Konzept des „Neuen Blarer“ beigetragen, hat eine Initiativgruppe aus kulturinteressierten Esslinger Bürgern. Zunächst stehen aber Umbauten an, die hohe Kosten mit sich bringen.

 

Mit einem um ein Jahr verschobenen Fest zum 90. Geburtstag des Hauses wagte man am Freitag einen Rückblick auf dessen wechselvolle Geschichte und einen Ausblick in die Zukunft. Rund 100 Gäste hatten sich unter strengen Coronaauflagen im geräumigen Großen Saal versammelt und ließen sich in die Vergangenheit des Hauses mitnehmen, das die Geschichte Esslingens und seiner Evangelischen Gemeinde im 20. Jahrhundert mehr als jedes andere spiegelt.

Vor allem die Chorsänger freuen sich, dass es im Blarer weitergeht

Besonders die Chorsänger sind froh, dass es nun doch weitergeht. „Das Haus ist unsere musikalische Heimat“, sagte Margitta Weidt, stellvertretende Vorsitzende des Oratorienvereins. Für viele Bürger ist es außerdem mit persönlichen Erinnerungen verbunden, denn es bietet nicht nur den geeigneten Rahmen für Chorproben und Aufführungen, sondern auch für schulische Abschlussbälle.

Moderiert wurde die Veranstaltung von Uwe Mönninghoff von der Initiativgruppe Neues Blarer. In einem ersten Gespräch interviewte er den Esslinger Dekan Bernd Weißenborn und Ulrike Sämann, die Vorsitzende der Bezirkssynode. Weißenborn machte deutlich, dass die Kirche zum Blarer steht: „Mit dem Haus wollen wir die Kirche ein Stück weit neu entdecken, Begegnung und Diskussion suchen und Impulse in die Stadtgesellschaft tragen.“ Engagiert für die Erhaltung des Blarer hatte sich auch die Musikpädagogin Ulrike Gräter, Erste Vorsitzende des Esslinger Vokalensembles. Zusammen mit dem Konzert- und Opernsänger Cornelius Hauptmann stand sie Mönninghoff Rede und Antwort und attestierte dem Bau nicht nur eine exzellente Akustik, sondern „Charakter, Würde und Leichtigkeit“. Zwischen den Gesprächen brachte eine bunte Revue aus Bildern, szenischen Lesungen und Klängen dem Publikum die Geschichte des Hauses näher. Der Pianist Robert Bärwald umrahmte diese am Flügel und spielte Songs der 20ger-Jahre ebenso wie Rockn‘ Roll und Stücke des Esslinger Komponisten Christian Fink.

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Die Texte, die die beiden Schauspieler Lara Haucke und Martin Theuer von der Württembergischen Landesbühne (WLB) vortrugen, fassten die Geschichte des Hauses zusammen. Sie begannen mit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, in dem 1370 Esslinger ihr Leben gelassen hatten. Durch den Wegfall der Bindung an den König von Württemberg fand die Kirche neue Entfaltungsmöglichkeiten und suchte mehr Volksnähe. Das Grundstück des 1840 abgerissenen Langhauses der Hinteren Kirche am sogenannten Schwanenplatz bot Platz für ein neues Gemeindehaus. Am 21. September 1930 wurde es nach einem Entwurf von Stadtbaurat Robert Lempp nach nur 13 Monaten Bauzeit eingeweiht. Drei Jahre später versuchten die Nationalsozialisten, auch die Kirche gleichzuschalten. Was der Fraktion der Deutschen Christen recht gewesen wäre, stieß in Esslingen auf erbitterten Widerstand nicht nur des CVJM, der sich trickreich gegen die Eingliederung in die Hitlerjugend wehrte. So blieb die Bekennende Kirche in der Stadt ein nicht zu unterschätzender Faktor. Nach dem Krieg führte der Oratorienverein im Blarer Bachs Weihnachtsoratorium auf.

Studentenproteste und Friedensbewegung

Dann aber brach die Welt auch musikalisch zu neuen Ufern auf. Robert Bärwald spielte Rockn‘ Roll- Klänge, bevor die beiden Schauspieler die Zuhörer zu den Studentenprotesten mitnahmen, in deren Zuge 1968 nach dem Attentat auf Rudi Dutschke vor dem Bechtle-Haus in der Zeppelinstraße die Auslieferung der Bildzeitung blockiert wurde. Im Blarer traf man sich anschließend zur Diskussion. Die Präsentation führte weiter bis zur Friedensbewegung der 80er-Jahre und zum konziliaren Prozess, bei dem von kirchlicher Seite aus zu Gerechtigkeit, Frieden und zur Bewahrung der Schöpfung aufgerufen wurde.

Zum Abschluss erinnerte Pfarrer Günter Wagner als Sprecher der Initiative Neues Blarer daran, dass vor viereinhalb Jahren das Haus vor dem Aus gestanden hatte, und rief zu Spenden auf.

Breite Palette möglicher Nutzungen

Kulturelles
Für das „Neue Blarer“ gibt es viele Ideen. Es soll Menschen Angebote machen, die sich an der christlichen und demokratischen Werteskala orientieren. Dazu gehört ein Stück weit auch eine kommerzielle Nutzung. Für die Bürgerschaft bleibt das Gemeindehaus am Blarerplatz nicht nur als Ort der Musik erhalten. Hier könnten auch Podiumsdiskussionen, Vorträge oder Ausstellungen stattfinden, deren Schwerpunkte auf Philosophie, Theologie, Politik, Psychologie, Kunst und Literatur liegen könnten. Die Franziskanerkirche und ihr spirituelles Angebot bleiben erhalten und werden zudem ausgeweitet.

Finanzielles
 Für die erste Renovierung fallen 800 000 Euro an, von denen 550 000 Euro aus Spenden finanziert werden müssen. Für weitere Umbauten hin zu einer innovativen Nutzung werden sieben Millionen Euro veranschlagt.