Einzigartig ist die jetzt erschienene Dokumentation des Kriegsalltags in Esslingen. Sie zeigt die Siegesgewissheit und die Propaganda, sie zeigt das Grauen des Krieges und das Leiden der Menschen.

Böblingen : Ulrich Stolte (uls)

Esslingen - Faszination, Erstaunen und Abscheu, alle diese Gefühle erzeugt die Dokumentation „52 x Esslingen und der Erste Weltkrieg“ des Stadtarchivs Esslingen. Eine Faszination darüber, wie der Krieg in alle Abläufe des Lebens spielte, ein Erstaunen über den Alltag, über die Freizügigkeit, mit der die Soldaten sogar homoerotische Szenen dokumentierten, und Abscheu, wenn kleine Kinder beim Kriegsspiel zum Tod im Schützengraben abgerichtet wurden.

 

Bundesweit einmalig war das Projekt des Stadtarchivs und des Esslinger Stadtmuseums: 52 mal, für jeden Monat, den der Erste Weltkrieg den Menschen brachte, wurde ein Gegenstand im Stadtmuseum ausgestellt und dazu ein Vortrag organisiert. Bundesweit einmalig war es auch, diese Ausstellungen in einem Buch zu dokumentieren, das jetzt erschienen ist.

Schützengräben zum Ausschneiden

Dadurch ist es den Herausgebern gelungen, letztlich die vermutlich umfassendste Schau des Kriegsalltags herzustellen, die es in Deutschland gibt. Erstaunlich ist es immer wieder festzustellen, wo und wie Krieg eine Rolle spielte. Da gab es einen Ausschneidebogen des Esslinger Verlags J. F. F. Schreiber, aus dem man einen Schützengraben bauen konnte. Der Bogen wurde von 1916 an, als sich die Niederlage langsam abzeichnete, nicht mehr aufgelegt. War es Materialknappheit, oder waren es die unzähligen Toten in den Schützengräbern, die das Spielzeug wie von selbst verboten? Vermutlich Letzteres. Ebenso war das Kinderbuch „Heil und Sieg“ des Schreiber -Verlages, in dem niedliche kleine Kinder im Spiel den Krieg gewinnen. Manche Gegenstände sind schlicht rätselhaft. Es findet sich eine Karte, in der alle Orte im Mittleren Neckarraum französische Namen trugen. Der Neckar hieß Maas, Esslingen Étampes, Plochingen hieß Pommery. Oberaichen hieß Angers sur haut und Unteraichen? Angers sur bas, natürlich. Voilà.

War es eine Karte für die Geheimdienste? Wahrscheinlich ein Papier für ein deutsches Manöver, das den Einsatz im Feindesland simulieren sollte. Die Gegenstände zeigten aber auch das Grauen des Krieges: Eine Brieftaubenkapsel, geschickt von einem Soldatentrupp, der von Panzern attackiert wurde und nicht wusste, ob er die nächsten Stunden überleben würde.

Unverblümte Homoerotik

Großes Verdienst haben Joachim Halbekann vom Stadtarchiv und Martin Beutelspacher vom Stadtmuseum schon allein dadurch erworben, dass die Esslinger durch sie ihre privaten Fotoalben öffneten, und damit nie gesehene Bilder aus dem Krieg zeigten. Eine zerstörte Kanone, eine unverblümte homoerotische Szene.

Die Dokumentation „52 x Esslingen und der Erste Weltkrieg“ zeigt vor allem auch, wie die Menschen vom Kriegstaumel ergriffen wurden, wie sie ernsthaft glaubten, dieser Entscheidungsschlacht zwischen den europäischen Großmächten würde kein Krieg mehr folgen, und wie dann die Stimmung kippte und sie nur noch versuchten, irgendwie am Leben zu bleiben. Auf Seite 182 des Buches findet sich eine Karte vom März 1918, die Bombenabwürfe dokumentiert von Fliegern der Entente, die es bis nach Esslingen geschafft hatten. Ein Vorbote dessen, was im Zweiten Weltkrieg noch kommen sollte.