Die Binge-Eating-Störung ist die am meisten verbreitete Essstörung in Deutschland – und die unbekannteste. Bis zu fünf Prozent der Deutschen sollen unter regelmäßigen Essattacken leiden.

Stuttgart - Schon als Kind war Marga pummelig. Hatte sie eine gute Note in der Schule oder half ihren Eltern im Haushalt, bekam sie etwas Süßes zur Belohnung. War sie krank, durfte sie sich zur Aufmunterung etwas beim Bäcker aussuchen. Auch heute noch isst Marga, ohne hungrig zu sein. Essen – das ist für sie gleichbedeutend mit Trost, mit Belohnung. Zugleich ist es ein Mittel gegen Langeweile. Das Gefühl, satt zu sein, kennt Marga nicht.

 

Abends lockt der Kühlschrank. Die junge Frau isst wahllos Pizza, Käsebrote, Kekse, Schokoriegel – so lange, bis der Bauch schmerzt. Dann, nach der Essattacke, fühlt sich Marga schlecht. Sie macht sich Vorwürfe und sucht erfolglos eine Antwort auf die Frage, weshalb sie sich immer wieder gehen lässt – obwohl sie die Folgen kennt. Während der Essattacken fühlt sie sich oft wie fremdgesteuert. Das macht ihr Angst.

Zwischen drei und fünf Prozent der Deutschen leiden an Binge-Eating

So wie Marga, deren Fall auf der Webseite der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) geschildert ist, geht es vielen Menschen in Deutschland. Zwischen drei und fünf Prozent der Deutschen leiden an einer Binge-Eating-Störung (BES), schätzen Experten. Die BES ist hierzulande die am meisten verbreitete Essstörung. Im Vergleich zu Magersucht oder Bulimie ist sie dennoch eine recht unbekannte Krankheit.

Erst im Jahr 1994 wurde die BES erstmals medizinisch definiert. Kennzeichnend für die Krankheit ist die wiederholte Aufnahme von Nahrungsmengen, die andere Menschen im gleichen Zeitraum nicht zu sich nehmen würden, sowie ein damit einhergehendes Gefühl des Kontrollverlusts. Essattacken also, die der Betroffene als nicht steuerbar erlebt. Das englische Wort binge bedeutet denn auch so viel wie Gelage oder Orgie. Obwohl diese Essanfälle bereits in den 1950er Jahren beschrieben wurden, glauben auch heute noch viele Ärzte, ihre Patienten müssten nur abnehmen, und es ginge ihnen besser. „Doch so einfach ist es nicht“, sagt Anja Hilbert vom Integrierten Forschungs- und Behandlungszentrum (IFB) Adipositas-Erkrankungen Leipzig. „Die Binge-Eating-Störung ist eine psychische Störung.“ Und als solche muss sie auch behandelt werden. Das Problem ist nur: „Die Betroffenen warten häufig viel zu lange, bis sie einen Therapeuten aufsuchen.“

Viele Patienten haben etliche Diätversuche hinter sich

Dabei ist die sogenannte kognitive Verhaltenstherapie bei BES durchaus ein Weg: „Die Erfolgsrate liegt langfristig bei etwa 50 Prozent“, sagt Anja Hilbert. Ernährungsprotokolle seien ein wichtiges Puzzlestück, um herauszufinden, wodurch die Essattacken ausgelöst werden, fügt die Verhaltensmedizinerin hinzu: „Bei Menschen mit einer BES ist die Nahrungsaufnahme meist mit negativen Gefühlen gekoppelt – mit Wut, Trauer, Enttäuschung oder Langeweile.“

Viele BES-Patienten haben bereits etliche Diätversuche hinter sich, weiß Marianne Sieler von der Stuttgarter Anlaufstelle für Essstörungen ABAS. „Eine Zeit lang halten die Betroffenen das Fasten durch, doch die Essanfälle kommen fast immer zurück.“ Und mit ihnen die Scham, der Ekel vor sich selbst. „Es ist ein Teufelskreis“, sagt die Sozialpädagogin. Ohne Hilfe von außen schaffen es nur die wenigsten aus der Erkrankung.“

Die Hürde, sich Hilfe zu holen, ist hoch

Bei ABAS können Betroffene sich über ihre Erkrankung informieren – persönlich, via E-Mail oder am Telefon. Zudem bietet die Beratungsstelle Selbsthilfegruppen an, für Patienten wie für Angehörige. „Wenn sie sehen, dass sie mit ihrer Erkrankung nicht alleine sind, ist das für viele schon eine große Erleichterung“, sagt Marianne Sieler. „Da die Krankheit so schambelastet ist, ist die Hürde, sich Hilfe zu holen, für Betroffene recht hoch.“

Das beobachtet auch Uta Jäger von der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Klinikum Stuttgart. „Viele Betroffene suchen erst nach Jahren Hilfe, wenn sie schon mit den Folgen der Krankheit zu kämpfen haben“, erklärt die Assistenzärztin. Andere wissen nicht einmal um ihre Erkrankung. Sie kommen in das Adipositas-Zentrum des Krankenhauses in Bad Cannstatt, um sich operieren zu lassen. „Bei der psychosomatischen Beurteilung, die vor jeder OP stattfindet, erkennen wir immer wieder Menschen mit der Störung“, sagt Jäger.

Viele Betroffene haben ein chaotisches Essverhalten

Sechs bis acht Wochen bleiben Patienten im Schnitt in der Klinik. Sie nehmen an Einzel- und Gruppentherapien teil, sie machen Sport und erhalten eine auf sie abgestimmte Ernährungsberatung. Die Mahlzeiten werden anfangs durch eine Pflegekraft begleitet. „Die Patienten sollen lernen einzuschätzen, wie groß eine normale Portion ist“, sagt Uta Jäger. Und für noch etwas sind regelmäßige Essenszeiten gut: „Viele Betroffene haben ein geradezu chaotisches Essverhalten“, sagt die Ärztin. „Sie lassen etwa das Frühstück ausfallen, um Kalorien zu sparen – essen den Rest des Tages aber ständig Süßigkeiten.“

In therapeuthischen Angeboten wollen die Ärzte herausfinden, was die Auslöser für die Essattacken sind – und ihnen zeigen, wie sie mit schwierigen Situationen anders umgehen können. Zudem sollen sie lernen, sich ausgewogen zu ernähren und ihre Essattacken zu reduzieren. „Wir nennen das: den Notfallkoffer für Zuhause.“ Um Rückfälle zu verhindern, empfiehlt Jäger Betroffenen, nach dem Klinik-Aufenthalt eine ambulante Psychotherapie oder eine Selbsthilfegruppe zu besuchen. Das kann stabilisieren. „Der Weg zu einem Leben ohne Essattacken ist langwierig und anstrengend – doch wer ihn beschreitet, hat gute Heilungschancen.“