Die Schattenseiten der digitalen Zukunft, über welche die „Chefs“ reden, ist plötzlich ganz nah. Auf dem EU-Gipfel ist der Abhörskandal rund um Angela Merkel und die USA ein wichtiges Thema.

Brüssel - Kurz vor Beginn des EU-Gipfels am späten Donnerstagnachmittag hat die litauische Präsidentin einen aussichtslosen Versuch gestartet, das Thema zu umgehen. Nach dem Treffen mit europäischen Arbeitgebervertretern und Gewerkschaften, das traditionell der Zusammenkunft der Staats- und Regierungschefs vorgeschaltet ist, will Dalia Grybauskaité „nur über den Sozialgipfel und dessen Themen reden“. Dazu will aber niemand etwas wissen – zumal keine bedeutsamen Entscheidungen auf der Tagesordnung stehen.

 

Und so wird das Abhören des Mobiltelefons von Angela Merkel durch den US-Geheimdienst zum Hauptthema dieses EU-Gipfels. „Ausspähen unter Freunden – das geht gar nicht“, sagt die Kanzlerin bei ihrer Ankunft in Brüssel: „Dabei geht es nicht vordergründig um mich, sondern um alle Bürgerinnen und Bürger Deutschlands.“ Nun müsse das Vertrauen im transatlantischen Bündnis erst wieder neu hergestellt werden.

Die Schattenseiten der digitalen Zukunft

Pariser Diplomaten zufolge will der französische Staatschef Francois Hollande in einem bilateralen Treffen mit Merkel die gemeinsame Reaktion besprechen. Schließlich hat in den Tagen zuvor die Zeitung „Le Monde“ unter Berufung auf den früheren US-Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowdon enthüllt, dass die National Security Agency (NSA) in nur einem Monat 70,3 Millionen Telefonate in Frankreich mitgehört und Personen des öffentlichen Lebens überwacht habe. Das Weiße Haus bestreitet all diese Vorwürfe.

Die digitale Zukunft, deren Schattenseite die Bedrohung der Privatsphäre ist, wird für die Gipfelteilnehmer somit unerwartet zur Gegenwart. Eigentlich wollen sie an diesem Nachmittag allgemein über die Bedeutung der Informationstechnik für mehr Wirtschaftswachstum sprechen und das Ziel erneuern, mittels einem bereits vorliegenden Telekompaket und anderer Gesetzesvorlagen bis 2015 einen „digitalen Binnenmarkt zu schaffen. EU-Kommissionschef José Manuel Barroso verwies darauf, dass auf diesem Wege bis 2020 vier Prozentpunkte mehr Wachstum erzeugt werden könnten.

Vertrauensverlust der Europäer

Der Portugiese stellt aber, wie so viele andere, die Verbindung zur NSA-Affäre her, wo es doch einen solchen digitalen Markt mit immer mehr Online-Aktivitäten „ohne einen gemeinsamen Ansatz beim Datenschutz gar nicht geben kann“. Die Spähaffäre und der damit einhergehende Vertrauensverlust der Europäer, die dem Internet ohnehin schon skeptischer gegenüberstünden als Bürger andere Weltregionen, seien somit „nicht nur aus bürgerrechtlicher, sondern auch aus ökonomischer Sicht ein sehr ernstes Thema“. EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy verweist auf den Entwurf der Gipfelerklärung, die „bis nächstes Jahr einen starken europäischen Ordnungsrahmen beim Datenschutz“ einfordert.

Die zuständige EU-Grundrechtekommissarin Viviane Reding fordert die „Chefs“ auf, beim EU-Gipfel endlich den Weg für ihre Datenschutzreform frei zu machen, die es unter Strafe stellen würde, dass Unternehmen Daten an Geheimdienste weitergeben, deren Arbeit aber nicht einschränken könnte. Datenschutz müsse für alle gelten, so die Luxemburgerin, „egal, ob es um die E-Mails der Bürger oder das Handy von Angela Merkel geht“. Diese spricht sich bei ihrer Ankunft für einen stärkeren EU-Datenschutz aus.

Sie oder andere Regierungen benennen an diesem Tag keine weiteren Konsequenzen. Andere sind da direkter. So verlangt Martin Schulz, der Präsident des EU-Parlaments, von den Staatenlenkern, die Freihandelsgespräche mit den USA auszusetzen: „Ich glaube schon, dass wir jetzt mal unterbrechen müssen.“