Auf dem EU-Gipfel in Brüssel setzt sich der Streit um die Rechtsstaatlichkeit in dem Land fort. Die Bundeskanzlerin fordert auch, dass die derzeit hohen Energiepreise nicht den Weg zur Klimaneutralität der Europäischen Union erschweren dürfen.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Brüssel - Plötzlich wird es auf dem Gipfel ungewohnt herzlich. 16 Jahre lang hat Angela Merkel den EU-Treffen immer wieder ihren Stempel aufgedrückt. Nun wurde die scheidende deutsche Kanzlerin von den Staats- und Regierungschefs in Brüssel mit fast überschwänglichen Worten und einigen Geschenken verabschiedet. Nach Angaben von Diplomaten wurde bei einer kleinen Abschiedszeremonie am Rand des EU-Gipfels am Freitagvormittag ein rund zweiminütiges Video mit Gipfelszenen aus den vergangenen Jahren gezeigt. Merkel sei darin auch mit zahlreichen schon lange nicht mehr amtierenden Staats- und Regierungschefs zu sehen, hieß es. So zum Beispiel mit dem 2019 gestorbenen französischen Präsidenten Jacques Chirac und dem früheren britischen Premierminister Tony Blair.

 

Der Gipfel würdigt die Kanzlerin

„Du bist ein Monument“, huldigte der EU-Ratspräsident Charles Michel nach Angaben von Teilnehmern der Kanzlerin. Ein EU-Gipfel ohne Merkel sei wie Rom ohne den Vatikan oder Paris ohne den Eiffelturm, sagte der Belgier. Ihre Weisheit werde insbesondere in komplexen Zeiten fehlen. Nach dieser Rede erhoben sich alle Teilnehmer der Runde und würdigten die mit Abstand dienstälteste Regierungschefin mit stehendem Applaus.

Politische Rücksichtnahme wurde Angela Merkel aber auch auf ihrem wohl letzten EU-Gipfel nicht zuteil. Im Gegenteil, denn wieder einmal war angesichts vieler Krisen ihr gesamtes Verhandlungsgeschick gefragt. Gestritten wurde vor allem über den drohenden Abbau des demokratischen Systems in Polen. Auch stundenlange Diskussionen brachten offensichtlich keine Annäherung der sehr gegensätzlichen Positionen. Während Warschau ein umstrittenes Urteil des Verfassungsgerichtes weiter hartnäckig verteidigte, sind einige EU-Staaten offensichtlich gewillt, hart gegen Polen vorzugehen und etwa weiter die Zahlungen aus dem Corona-Fonds zurückzuhalten.

Beeindruckt von der Debatte im Parlament

In der abschließenden Pressekonferenz unterstrich die Bundeskanzlerin, dass es vor allem in dieser umstrittenen Sache wichtig sei, sich mit dem nötigen Respekt zu begegnen. Den hat sie offensichtlich unter anderem in der sehr heftigen Debatte über das Thema am Dienstag im Europaparlament vermisst. Und einmal mehr warb sie dafür, auch Verständnis für die Position Polens aufzubringen, denn auch in anderen Ländern würden manchen Ausformungen der EU sehr kritisch betrachtet.

Wenig Bewegung gab es beim Hauptthema des Gipfels: der Energiekrise. Mehrere Stunden diskutierte das politische Spitzenpersonal Europas über die rapide steigenden Preise für Gas, Öl und Strom. Manche befürchten sogar soziale Spannungen, sollten Millionen Haushalten im Winter das Geld für die Heizkosten ausgehen. Zumindest über die kurzfristigen Maßnahmen im Kampf gegen die Preissteigerungen äußerte sich Angela Merkel zufrieden. Die sogenannte Toolbox der Kommission biete den Ländern viele Möglichkeiten, auf die aktuelle Krise zu reagieren. So hat etwa Frankreich am Freitag verkündet ärmeren Haushalten Schecks in Höhe von 100 Euro auszustellen.

Vor allem Südeuropa unter Druck

Was mittelfristig passieren soll, ist allerdings noch unklar. Vor allem südeuropäische Länder wie Spanien und Griechenland sind durch den Energie-Preisanstieg unter Druck geraten. Spanien dringt ähnlich wie bei Corona-Impfstoffen auf gemeinsame Gas-Einkäufe und eine strategische EU-Reserve. Der gemeinsame Einkauf wird allerdings in Deutschland sehr skeptisch beurteilt, da der Energiesektor eine Sache der Privatwirtschaft sei, erklärte Angela Merkel schon vor dem Beginn des Gipfels.

Auch am Ende des Treffens wiederholte die Kanzlerin, dass diese Energiekrise auf keinen Fall etwas mit den Klimazielen der Europäischen Union zu tun habe. Dieser mahnende Hinweis war während der Beratungen allerdings vom ungarischen Regierungschef Viktor Orban schlichtweg ignoriert worden. Er rief die EU-Kommission auf, ihre Vorschläge „vollständig zu überdenken“. Teils handele es sich um „utopische Fantasien“, sagte er zu dem Vorschlag, künftig etwa auch den Verkehrssektor und Gebäude in den Emissionshandel einzubeziehen. Orban argumentierte, das Vorhaben heize die deutlich gestiegenen Energiepreise weiter an und werde „die europäische Mittelschicht umbringen“.

Mit dem im Juli vorgestellten Klimapaket der Kommission soll die EU bis 2030 ihre Emissionen um 55 Prozent gegenüber 1990 senken. Brüssel spricht sich zudem für ein Verkaufsverbot von Neuwagen mit Verbrennungsmotor ab 2035 aus. So zeichnete sich in Brüssel kurz vor der nächsten Weltklimakonferenz in der Europäischen Union ein sehr grundsätzlicher Konflikt über die künftigen Klimapläne ab.

Auf ihrem wohl letzten Gipfel äußerte sich Merkel besorgt über den Zustand der Union. Es gebe viele ungelöste Probleme, die die EU vor allem nach außen schwächen würden. Das betreffe Fragen der Rechtsstaatlichkeit, aber auch der Migration. Dazu komme der wirtschaftliche Druck, sagte Merkel und verwies vor allem auf den Aufstieg Chinas. „Europa ist nicht mehr der innovationsfreudigste Kontinent“, kritisierte sie. „Die Baustellen für meinen Nachfolger sind groß“, fügte die scheidende Kanzlerin hinzu.