Mit dem Deutschen Martin Selmayr rückt ein Jurist an die Spitze des Verwaltungsapparats der EU-Kommission, an dem sich die Geister scheiden

Korrespondenten: Markus Grabitz (mgr)

Brüssel - Wenn sein Chef eine Rede hält, sitzt er häufig in der ersten Reihe. Der 47-Jährige mit dem dunklen Bürstenhaar nickt dann Jean-Claude Juncker aufmunternd zu, der Deutsche souffliert dem Kommissionspräsidenten, wenn es um Zahlen geht. Der Jurist Martin Selmayr ist seit 2014 so etwas wie das Back-Up für den 63-Jährigen Luxemburger, seitdem der erst Spitzenkandidat für die christdemokratische europäische Parteienfamilie und nach den letzten Europawahlen vom Europaparlament an die Spitze des Brüsseler Beamtenapparates gewählt wurde.

 

Selmayr leitet sein Büro, im EU-Jargon ist er sein Kabinettschef. Das ist in der Kommission per se ein einflussreicher Posten. Doch Kabinettschef beschreibt nur unzulänglich den enormen Einfluss, den der gebürtige Bonner Selmayr, der in Karlsruhe Abitur gemacht hat, ausübt. Manche halten ihn für den eigentlichen Strippenzieher im Hintergrund der Kommission. Über seinen Tisch gehen alle wichtigen Entscheidungen. An ihn wandte sich etwa der Autolobbyist Matthias Wissmann, als er im Herbst in letzter Minute noch Änderungen an neuen EU-Abgasvorschriften durchsetzen wollte. Er entscheidet, wen Juncker empfängt, welcher Zeitung er Interviews gibt und welche Information aus dem Inneren der Macht an einen Journalisten durchgestochen und ohne Quellenangabe in die Öffentlichkeit lanciert wird.

Selmayrs Beförderung und Junckers Nachfolge

Lange war spekuliert worden, was aus ihm wird, wenn sein Chef Juncker im nächsten Jahr die Kommission verlässt und in Rente geht. Da er polarisiert, die Brüsseler Welt in Freunde und Feinde aufteilt, hat er viele Gegner im EU-Apparat. Daher wurde gemutmaßt, dass er nur eine Zukunft außerhalb der Kommission haben würde. Nun ist es raus: Juncker macht ihn zum Generalsekretär der EU-Kommission. Damit ist klar: Selmayr gerät an die wichtigste Schaltstelle im EU-Beamtenapparat. Dort laufen alle Fäden zusammen. Alle Gesetzesvorhaben, die die Generaldirektionen planen, schlagen hier zunächst auf. Hier werden sie auf mögliche Folgen gecheckt, für aussichtsreich und gut befunden, dann an die zuständigen Kommissare zur Weiterbearbeitung weitergeleitet. Oder sie landen bei Missfallen in der Mülltonne.

Indem Juncker Selmayr an diese Stelle versetzt, verschafft er diesem mindestens für zwei, drei weitere Jahre eine äußerst machtvolle Position. Selbst wenn im Herbst 2019 ein neuer Kommissionspräsident kommt, wird er zunächst auf die Expertise von Selmayr angewiesen sein und müsste eine gewisse Anstandsfrist verstreichen lassen, bevor er ihn auswechselt.

Schon heißt es, mit Selmayrs Wechsel auf den Posten des Generalsekretärs werde der Spitzenkandidaten-Prozess für Interessenten weniger attraktiv: Von Brexit-Unterhändler Michel Barnier, der sich warm läuft, um sich für die Juncker-Nachfolge in der christdemokratischen Parteienfamilie zu bewerben, hört man, dass er mit dem Deutschen gar nicht gut kann.

Kein Undercover-Agent der deutschen Politik

In Brüssel ist die Nachricht von der Beförderung wie eine Bombe eingeschlagen. Selmayr wird geachtet wegen seines steilen Aufstiegs, seines kompromisslosen Eintretens für die europäische Sache, gefürchtet aber wegen seines Alphatier-Auftretens. Geliebt wird er von den wenigsten. Er gilt als Machiavelli im EU-Betrieb. Seine Gegner in Brüssel raunen schon von der Kommission als Selbstbedienungsladen. Ihre Botschaft: Selmayr habe sich seine Zukunftsverwendung selbst ausgesucht und bei Juncker durchgedrückt. Es ist sogar von einem Coup die Rede. Die Personalie sei erst in letzter Minute auf die Agenda der Sitzung der Kommissare gesetzt worden, damit die Gegner ja keine Chance mehr haben sollten, Widerstand zu leisten.

EU-Kommissar Günter Oettinger, der für das Personal zuständig ist, tritt am Tag der Beförderung vehement der Behauptung entgegen, mit Selmayr werde der Einfluss der Bundesregierung in Brüssel ausgeweitet: „Selmayr ist zwar ein Deutscher, aber mit Sicherheit kein Undercover-Agent der deutschen Politik.“ In Berlin werde er gelegentlich als das Gegenteil angesehen.

Selmayrs Gegner

Gegner hat Selmayr viele. So soll die ehemalige Haushaltskommissarin Kristalina Georgiewa ihm vorgeworfen haben, die Arbeitsatmosphäre zu vergiften. Kommissare sollen sich darüber beschwert haben, dass er ihnen den Zugang zu Juncker verwehrt. Immer wieder eckt er an, weil er seine Kompetenzen als Beamter überschreitet und Politik macht. Diese Erfahrung machte etwa der damalige deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) mit Selmayr auf dem Höhepunkt der Griechenland-Krise. Selmayr hatte einen Rettungsplan öffentlich für gut befunden. Schäubles Reaktion darauf spricht Bände: „Es müssen nicht über das Wochenende von irgendwelchen nicht autorisierten Personen irgend welche Erwartungen geschürt werden.“