Die Bundesregierung bleibt im Steit über die Asylpolitik in der Europäischen Union hart. Sie riskiert damit aber eine Blockade der EU, meint unser Brüssel-Korrespondent Markus Grabitz.

Korrespondenten: Markus Grabitz (mgr)

Brüssel - Eben noch sah es so aus, als ob das Jahr 2017 für Europa ganz gut gelaufen ist. Bei den Brexit-Verhandlungen hat der Club der 27 EU-Mitgliedsstaaten eine beeindruckende Einigkeit gezeigt. Bei den Wahlen in den Niederlanden und Frankreich konnten Anfang des Jahres die Europahasser gebändigt werden. Und doch ist Brüssel von einem versöhnlichen Jahresausklang meilenwert entfernt. Eine alte Wunde reißt plötzlich wieder auf und lässt die EU wie einen zerstrittenen Haufen dastehen. Der Streit über die Solidarität aller EU-Mitglieder bei der Aufnahme von Flüchtlingen und Zuwanderern ist zurück.

 

Darin steckt ein gewaltiges Konfliktpotenzial. Denn nur wenn es gelingt, bei der Grenzsicherung, der Steuerung der Zuwanderung und der solidarischen Verteilung überzeugende Lösungen zu finden, können die Parteien im Frühjahr 2019 ruhigen Gewissens bei den Wahlen zum nächsten Europaparlament vor die Bürger treten. Ansonsten droht ein Desaster.

Weitsichtige Strategie Tusks

Der Ausgang der Bundestagswahl in Deutschland zeigte, wie rechte Populisten mit ihrer Stimmungsmache gegen Zuwanderer und Flüchtlinge Mandate im Parlament erringen können. Umso weitsichtiger war es, dass EU-Ratspräsident Donald Tusk nun offensiv das strittige Thema angegangen ist. Es ist seine Aufgabe, in Brüssel das Konzert der selbstbewussten Staats- und Regierungschefs zu dirigieren. Seit zweieinhalb Jahren herrscht Stillstand bei der Frage einer solidarischen Verteilung von Flüchtlingen auf alle EU-Mitglieder. Polen, Ungarn, Tschechien haben hinreichend klar gemacht, dass sie nicht bereit sind, die besonders belasteten Länder Italien und Griechenland zu entlasten.

Der Pole Tusk kennt die Mentalität der Mitteleuropäer gut genug, um zu wissen: Der Rest der EU ist am Ende seiner Möglichkeiten, wenn selbst Urteile des Europäischen Gerichtshofs und die Drohung, Finanzmittel zu streichen, nichts bewirken. Es ist deshalb höchste Zeit, den alten Streit auszuräumen. Spätestens im Sommer muss eine Entscheidung über die Flüchtlingspolitik der Zukunft fallen, wenn Brüssel bei den Wahlen nicht mit leeren Händen dastehen will.

Viele Regierungen sind pragmatischer als die deutsche

Die Bundesregierung schickt sich dagegen an, in Prinzipienreiterei zu verfallen. Sie will den Streit mit Polen, Tschechien und Ungarn um ein paar Hundert Flüchtlinge, die jedes dieser Länder hätte aufnehmen müssen, unbedingt ausfechten. Das ist unverantwortlich. Und es ist mitnichten so, dass alle anderen Mitgliedstaaten die harte deutsche Linie unterstützten. Sie sind zwar fast alle der Meinung, dass die Weigerung der Mitteleuropäer, sich zu beteiligen, unverschämt ist. Viele Regierungen sind aber pragmatischer als die deutsche und wollen aus der Sackgasse heraus kommen. Berlin riskiert, dass die EU blockiert wird. Es ist höchste Zeit für eine Kurskorrektur.

Warum unterstützt die Bundesregierung nicht die Initiative von Tusk? Es wäre ein starkes Signal des Ausgleichs an die Regierungen in Warschau, Budapest und Prag. Sie hätten die Chance, aus ihrer Ecke heraus zu kommen und gemeinsam einen Weg für die Zukunft zu erarbeiten. Da der Migrationsdruck derzeit nicht so hoch ist, ist die Zeit dafür günstig. In der Sache ist klar, dass eine Lösung für die Zukunft sich nur an dem Konzept orientieren kann, das Berlin vorschwebt. Der Gedanke der Solidarität ist ein zentraler Baustein, wie Herausforderungen in der EU bewältigt werden. Überzeugend und mitreißend ist Europa immer dann, wenn bei unvorhergesehenen und nicht selbst verschuldeten Ereignissen die EU als Schicksalsgemeinschaft für einzelne Betroffene einsteht. Gelebte Solidarität unterscheidet Europa von allen anderen Kontinenten. Diesem Erfolgskonzept dürfen sich auch die Länder in Mittel-Ost-Europa auf Dauer nicht verweigern. Ansonsten haben sie im Club tatsächlich nichts zu suchen.