Die EU will Social Media und Messenger dazu verpflichten, mehr gegen Darstellungen von sexuellem Missbrauch von Kindern zu tun, Kritiker warnen vor einer „Chatkontrolle“. Nun kommt Bewegung in das brisante Thema.

Digital Desk: Simon Koenigsdorff (sko)

Der Plan der EU-Kommission klingt, als könne man sich leicht auf ihn einigen: Um Kinder besser zu schützen, sollen Onlineplattformen mehr gegen Darstellungen von sexuellem Kindesmissbrauch im Internet tun. Doch folgt man den Kritikern des Entwurfs, droht dadurch das Ende der vertraulichen Kommunikation im Netz.

 

Das EU-Parlament und der Rat der Mitgliedstaaten gehen nun in die entscheidenden Wochen, um ihre Positionen festzulegen – und auch wenn sich niemand gegen Kinderschutz stellen will, spitzt sich der Streit dennoch zu.

Auch der EU-Abgeordnete Moritz Körner von der FDP betont zuallererst: „Natürlich müssen wir das schreckliche Verbrechen des Kindesmissbrauchs hart bekämpfen.“ Dann schränkt er aber ein: „Ich glaube nur, dass der Vorschlag der Kommission das Gegenteil erreicht.“

Mit der EU-Verordnung würde das Scannen Gesetz

Geht es nach dem Vorschlag von vergangenem Jahr, sollen Anbieter von E-Mail-, Social-Media- oder Messengerdiensten, aber auch von Onlinespielen oder Cloud-Speichern, zunächst eigene Kinderschutzmaßnahmen offenlegen. Wird einer Plattform trotzdem ein Risiko attestiert, von Tätern genutzt zu werden, muss sie verdächtige Bilder und Texte automatisiert suchen und den Behörden melden – nämlich solche, die sexuellen Missbrauch darstellen könnten oder den Versuch, mit Missbrauchsabsicht Kontakt zu Kindern aufzunehmen.

Im Moment suchen manche US-Anbieter bereits nach Missbrauchsmaterial – allerdings freiwillig auf Basis einer Ausnahme, denn eigentlich dürfen sie in der EU die Kommunikation ihrer Nutzer nicht großflächig mitlesen. Mit der EU-Verordnung würde das Scannen Gesetz.

Vorwurf der Massenüberwachung

Seitdem protestieren Bürgerrechtler und Datenschützer unter dem Schlagwort „Chatkontrolle“. Der Vorwurf: Trotz hehrem Ziel sei es das Ende des digitalen Briefgeheimnisses, wenn private Nachrichten aller, auch unbescholtener Nutzer eines Dienstes durchsucht werden. Auch Körner sieht das so: „Wenn dieser Vorschlag in zwei oder drei Jahren vor dem Europäischen Gerichtshof scheitert, dann haben wir nichts gewonnen.“ Zu dem Schluss, dass die Scan-Anordnungen gegen die Grundrechte auf Privatsphäre und Datenschutz verstoßen dürften, kam auch der Wissenschaftliche Dienst des EU-Parlaments in einem Gutachten. Auch der Juristische Dienst des EU-Ministerrats schließt sich nun dieser Einschätzung an.

Dass die Abwägung zwischen den Schutzrechten von Minderjährigen und dem Recht auf Privatsphäre schwierig ist, bestätigt die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus – betont jedoch, das Ergebnis müsse „zu einem maximal möglichen digitalen Kinderschutz“ beitragen. Sie kritisiert, der Begriff „anlasslose Chatkontrolle“ sei verkürzt und „polarisiert die Debatte einseitig“. Der Vorschlag sehe ein mehrstufiges Verfahren vor, Anbieter müssten zunächst selbst Risiken für Kinder mindern, bevor eine Scan-Anordnung erfolge. Claus hält das bisherige freiwillige Scannen für „extrem wichtig“ und warnt davor, den Entwurf zu verwerfen oder die Scan-Anordnungen ganz zu streichen. Dennoch rechnet auch sie mit Änderungen.

In Deutschland ist die Ampel noch uneins

Die Bundesregierung hat sich darauf geeinigt, Teile des Vorschlags abzulehnen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) will im EU-Ministerrat nur zustimmen, wenn jegliches Scannen von verschlüsselter Kommunikation (wie beispielsweise Whatsapp-Chats) ausgeschlossen bleibt. Dem Justiz- und dem Digitalministerium, beide FDP-geführt, geht das jedoch nicht weit genug. Innerhalb der Bundesregierung gibt es laut Verhandlungsunterlagen noch eine „kritische Prüfung“ der Frage, ob auch unverschlüsselte Chats und Cloud-Speicher gescannt werden sollen. Der Koalitionsvertrag lehnt eigentlich jedes „Scannen privater Kommunikation“ ab.

Umstritten ist zudem, ob die Anbieter nicht nur nach bereits bekanntem Material suchen sollen, sondern mittels Künstlicher Intelligenz (KI) auch nach neuen Darstellungen und nach Kontaktanbahnungen von Tätern mit Minderjährigen. Derzeit gehen Experten davon aus, dass solche Erkennungssoftware oft falschen Verdacht schöpfen dürfte. „Das würde dazu führen, dass sehr viel unproblematisches Material bei den Behörden landet und sie überlastet“, erklärt Körner. Von Strafverfolgern höre er, dass manche Fälle zwar bei populären Diensten auffielen, die Verfolgung von Tätern im Darknet aber wichtiger sei. Schon jetzt bearbeiten deutsche Strafverfolger jährlich Zehntausende automatischer Verdachtsmeldungen aus den USA. Körner sieht eine Gefahr irrtümlicher Verdächtigungen: „So etwas kann das Leben von unschuldigen Menschen zerstören.“

Verantwortung der IT-Riesen

Die Missbrauchsbeauftragte zieht einen anderen Schluss: Zwar fehle es der KI-Technologie derzeit an Genauigkeit, zum Beispiel um einvernehmliche Bilder unter Jugendlichen von Missbrauch zu trennen. Doch es sei wichtig, „dass wir uns diese Möglichkeiten für die Zukunft nicht nehmen“, fordert Claus. Schließlich gehe es darum, Missbrauch möglichst früh zu erkennen und zu unterbinden. Für Kerstin Claus ist zentral, dass „im Netz maßgeblich die Anbieter selbst, also die IT-Wirtschaft, den Kinderschutz mitverantworten“ – das sei nicht die alleinige Verantwortung der Eltern.

Einigkeit gibt es nur punktuell, zum Beispiel über ein geplantes EU-Zentrum für Kinderschutz. Claus und das Innenministerium erhoffen sich eine Entlastung der Polizei, wenn Verdachtsmeldungen dort vorsortiert werden. Körner pflichtet bei: „Wir brauchen mehr europäische Koordinierung und bessere personelle Ausstattung.“ Trotzdem hält er den Vorschlag für den falschen Rahmen – und wünscht sich eine Ablehnung.

Die Fraktionen im EU-Parlament haben bereits zahlreiche Änderungen vorgeschlagen. Einen Kompromiss finden muss nun der federführende EVP-Abgeordnete Javier Zarzalejos aus Spanien: Sein jüngster Entwurf will das Scannen auf eingrenzbare Nutzergruppen beschränken, doch auch er wird kontrovers diskutiert. Eine Einigung von Parlament, Mitgliedstaaten und Kommission könnte also noch Monate dauern.

Zahlen und Ausblick

Fälle
Laut Polizeistatistik wurden 2022 rund 54 000 Fälle der Verbreitung von Missbrauchsdarstellungen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland registriert, acht Prozent mehr als 2021.

Gesetzgebung
Der Vorschlag der EU-Kommission wird parallel im Parlament und unter den Mitgliedstaaten verhandelt. Ein fertiges EU-Gesetz entsteht danach in sogenannten Trilog-Verhandlungen zwischen allen drei Seiten.