Eigentlich fällt der Eurovision Song Contest in diesem Jahr aus – wegen Corona. Doch nun buhlen gleich zwei Ersatzshows um Zuschauer: eine in der ARD, eine auf ProSieben. Stefan Raab macht große Ankündigungen, dagegen pflegt die ARD die ESC-Tradition. Wer wird gewinnen?

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Erst einmal zur Erinnerung die traurigen Fakten: Am 18. März sagte die Eurovision wegen der Corona-Pandemie ihren diesjährigen Song Contest (ESC) ab, der an diesem Samstag in den Niederlanden hätte stattfinden sollen – was für ein Drama! Mehr als 200 Millionen TV-Zuschauer nicht nur in Europa, sondern auch in Kanada, Australien und China wären von fern aus gern dabei gewesen, von tausenden Fans im quirligen Rotterdam mal ganz abgesehen.

 

Armes Holland! Nach einer langen Durststrecke von über 40 Jahren war es unseren Nachbarn, die 1956 immerhin zu den ESC-Gründern zählten, im Mai 2019 in Tel Aviv endlich gelungen, den ebenso spektakulären wie unterhaltsamen Wettstreit um den besten Popsongs des Abends wieder einmal zu gewinnen: Duncan Laurence wusste mit seiner emotionalen Popballade „Arcade“ sowohl die Fachjurys als auch die Mehrheit der Zuschauer zu überzeugen. Verbunden mit dem Sieg ist das Recht, den nächsten ESC auszutragen – eine Mammutshow, die alle Ländern stets auch zur globalen Imagepflege nutzen. Aber dann: Corona...

Stefan Raab hat seine Verdienste, aber...

Zwei Monate nach der ESC-Absage fragt man sich allerdings, warum es der Eurovision damals im März nicht gelang, eine gemeinsame alternative Form des Wettbewerbs zu entwickeln, beispielsweise in dezentraler Form, aber mit einer gemeinsamen internationalen Abstimmung. Aus Kreisen des in Deutschland federführenden NDR heißt es, man habe sich in dem großen Kreis nicht einigen können. Stattdessen bieten viele ESC-Länder nun nationale Alternativen an – und in Deutschland gibt es am Samstagabend gleich zwei davon: Die ARD richtet in der Hamburger Elbphilharmonie einen verkleinerten „ESC der Herzen“ aus, bei Pro Sieben stemmt Stefan Raab eine komplette Konkurrenzveranstaltung, den „Free European Song Contest“.

Raabs historische Verdienste um den European Song Contest sind einerseits unbestreitbar, schließlich war er es, der 2010 die damals erst 18-jährige Gymnasiastin Lena in einer Castingshow aufbaute und mit dem Titel „Satellite“ zum Triumph beim ESC in Oslo führte. Leider liegen bei dem inzwischen 53-jährigen Medienunternehmer Genialität und Hybris dicht beieinander: Mit seiner damals einsamen Entscheidung, Lena 2011 in Düsseldorf gleich ein zweites Mal ins Rennen zu schicken, tat er der jungen Sängerin – auch im Blick auf ihre gerade begonnene Karriere – keinen großen Gefallen.

Mike Singer tritt an für Kasachstan

Allein mit seinem Showtitel „Free European Song Contest“ erhebt er nun auf Pro Sieben gleich wieder den Anspruch, als einziger verstanden zu haben, wie’s funktioniert. Ursprünglich versprochen hatte er zunächst einen europaweiten Talentwettbewerb, in dem es nur um Innovation und Qualität gehe. Sein Haussender bekam aber wohl Bedenken, ob mit lauter No-Names genügend Interesse zu wecken ist. Deswegen lässt Raab nun eine Reihe beim Pro-Sieben-Publikum beliebter deutscher Popstars für andere Länder auftreten: Sarah Lombardi aus Köln singt für Italien, der Rapper Eko Fresh, ebenfalls aus Köln, klar, für die Türkei. Der Youtoube-Star Mike Singer darf aus irgendeinem Grund für Kasachstan antreten, die Backnanger Schlagersonne Vanessa Mae aufgrund ihres kroatischen Papas für Zagreb. Ach ja, und womöglich wird Raab selbst für Deutschland singen; zumindest streut Pro Sieben in den sozialen Netzwerken entsprechende Gerüchte. Zu sehen alles ab 20.15 Uhr.

Wer eher am traditionellen ESC-Feeling hängt, wird sicher besser in der ARD aufgehoben sein. Das Erste hat aus allen ja schon lang nominierten Titeln, die eigentlich in Rotterdam hätten antreten sollen, mit Hilfe der deutschen Fangemeinden die zehn beliebtesten ermittelt und lässt sie bei einer Show in der Hamburger Elbphilharmonie in einem eigenen ESC-Finale antreten - vier von ihnen sogar live mit ihrer ESC-Bühnenshow. Barbara Schöneberger wird (natürlich ohne Saalpublikum) moderieren und zum Schluss einen „ESC-Sieger der Herzen“ ermittelt.

Der ESC 2021 findet dann hoffentlich endlich in Rotterdam statt

Das wird ganz sicher nicht der deutsche ESC-Kandidat Ben Dolic (23) sein. Das deutsche Publikum darf für seinen Beitrag „Violent Thing“ nicht votieren. Bitter für Dolic: Vermutlich hätte sein eingängiger Popsong in Rotterdam sogar Chancen gehabt. Beim nächsten Song Contest 2021 darf er damit aber laut Eurovisions-Regeln nicht erneut antreten.

Besagter Song Contest 2021 soll übrigens dann wieder in Rotterdam stattfinden, so haben es Eurovision und Stadt beschlossen. All jenen, denen das jetzt gar nichts nützt, den diesjährigen Kandidaten, widmet das niederländische Fernsehen seine Liveshow „Europe Shine a Light“, die das Erste von 22 Uhr an überträgt. Es soll dabei viele Überraschungen für die Fans geben – aber leider nicht das Wichtigste und Spannendste von jedem ESC-Finale: die Punktevergabe. Seufz.

Diese zehn offiziellen ESC-Titel treten beim „deutschen Finale“ an diesem Samstag in der Hamburger Elbphilharmonie gegeneinander an (ARD, 20.15 Uhr):

Dänemark: Ben & Tan („Yes“)

Aserbeidschan: Efendi („Cleopatra“)

Schweden: The Mamas („Move“)

Litauen:
The Roop („On Fire“)

Schweiz: Gjon’s Tears („Répondez-moi“)

Malta: Destiny („All of my love“)

Island: Daol Freyr og Gagnamagnio („Think abouth things“)

Italien: Diodato („Fai Rumore“)

Bulgarien: Victoria („Tears getting sober“)

Russland: Little Big („Uno“)

Bühnenpräsenz Live in der Elbphilharmonie auftreten können dabei die Dänen, die Isländer, die Litauer – und der deutsche ESC-Kandidat Ben Dosic („Violent Things“).

Fortsetzung Ab 21.55 Uhr überträgt die ARD die ESC-Show „Europe Shine a Light“ des niederländischen Fernsehens.

Alternative Der „Free European Song Contest“ beginnt um 20.15 Uhr auf Pro Sieben. Die Liveshow wird moderiert von Conchita Wurst und Steven Gätjen.