Auf der Suche nach popkultureller Relevanz und dem Glanz alter Tage hat sich der ESC in eine Suppe aus konturfreiem Einerlei manövriert. Ausnahmsweise vorne mit dabei: Deutschland.

Lissabon - Die gute Nachricht: Deutschland muss sich mit seinem Beitrag zum Eurovision Song Contest (ESC) nicht durch die Vorausscheidungen kämpfen. „You Let Me Walk Alone“ von Michael Schulte ist automatisch für das große Finale an diesem Samstag gesetzt. Nicht einmal die schlechten Resultate der vergangenen Jahre können das ändern. Wie Frankreich, Spanien, Großbritannien und Italien, zählt auch Deutschland zu den „Big Five“, die definitiv im Finale ihr Lied vortragen dürfen. Das sind die fünf Nationen, die den größten finanziellen Beitrag zur European Broadcasting Union (EBU) leisten. Der Zusammenschluss öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten koordiniert und organisiert den Programmaustausch der Mitglieder aus Europa und dem Mittelmeerraum.

 

Die schlechte Nachricht: Die deutschen Resultate bei den vergangenen Wettbewerben waren für alle Beteiligten nahezu traumatisch: letzter Platz (2015), Schlusslicht (2016) und Vorletzter (2017). Als ob das nicht schon tragisch genug gewesen wäre, gab der ESC-Delegationsleiter Christoph Pellander auch noch zu Protokoll, man habe in den vergangenen Jahren möglicherweise zu sehr versucht, es allen recht zu machen und sich zu oft dafür entschieden, Kompromisse einzugehen. Das habe, so Pellander, in der Vergangenheit zu „eher durchschnittlichen Musikbeiträgen“ geführt.

Als würde Mario Gomez für zwei Mannschaften kicken

Dieses nachträgliche Abgrätschen von im Wettbewerb eh schon gescheiterten Interpreten erschien bereits kurz darauf doppelt absurd: Denn der beim deutschen ESC-Vorentscheid federführende NDR setzte im Februar abermals auf eben diesen verzweifelten Geschmackskonsens und brachiale Beliebigkeit. Kein Lied war mies, aber auch keines richtig gut – bestenfalls egal, nichts woran man sich den kleinen Zeh stoßen oder anderweitig aufgewühlt würde. Die beim Vorausscheid in Berlin vertretenen Beiträge wurden in Gremien und Writingcamps erarbeitet, als ob noch nie jemand von der alten Geschichte mit den vielen Köchen und dem Brei gehört hätte.

Der Sieger und somit deutscher Repräsentant beim Finale in Lissabon: Michael Schulte, beziehungsweise das Stück „You Let Me Walk Alone“ – aus der Feder des dänischen Songwriters und Produzenten Thomas Stengaard. Er wiederum war an diesem Abend zusätzlich am Wettbewerbs-Beitrag „Jonah“ von Xavier Darcy beteiligt. Etwas überspitzt gesagt: Das ist, als würde Mario Gomez nebenberuflich auch noch für die TSG Hoffenheim stürmen, um sich möglichst viele Chancen auf den Europacup warm zu halten.

Scheitern ist die einzige Option

Der 28-Jährige Schulte darf sich wiederum sicher sein, mit einem Lied zum ESC-Finale nach Lissabon zu fahren, das auch an Adele, Mark Forster, Max Giesinger oder Coldplay keine Falten werfen würde – und auch nicht an den Kandidaten aus beispielsweise Irland, Spanien, Finnland oder Aserbaidschan. So rund, so gefällig, so beliebig ist „You let Me Walk Alone“.

Dabei ist das Prinzip Popmusik einfach: Melodie, Rhythmus, Lebensgefühl – fertig. Im Idealfall kommt dabei ein Lied heraus, zu dem man gleichwohl einschlafen, aufwachen, tanzen, küssen und Blödsinn machen will. Reihenfolge: egal. Nicht nur beim deutschen Vorentscheid wurde dies aber auf eine Ebene herunter gebrochen, auf der Scheitern die einzige Option ist. Es geht nicht darum, wegweisend zu sein, ein Lied zu schaffen, das bleiben wird, es geht nicht mal mehr darum, aufzufallen. Nicht nur der deutsche Beitrag zielt einzig darauf ab, so vielen Menschen wie nur irgendwie möglich zu gefallen – anstatt die Kauzigkeit, das Einzigartige oder die Individualität von Lied und Künstler hochzuhalten wie einen Pokal.

Im vergangenen Jahr wollten in Deutschland nur noch rund acht Millionen Zuschauer dem vierstündigen ESC-Final-Einerlei am Fernseher beiwohnen – ein mittelgut frequentierter „Tatort“ aus Dresden lockt mehr Publikum vor die Bildschirme. Und natürlich ist auch die Geschichte des ESC ein bisschen traurig – eben weil die glorreichen Tage lange vorbei sind.

Vom Trendsetter zum Ladenhüter

In den 50er- und 60er-Jahren waren so genannte Songfestivals wie das im belgischen Knokke, im italienischen San Remo und später der europaweit ausgetragene Grand Prix Eurovision de la Chanson maßgeblich stilbildend: hier wurden die Trends der (Schlager-) Branche gesetzt. Der Unterschied zu heute: Im Vordergrund standen Komponisten und Texter, nicht Interpreten. Beim ersten Festival della Canzone Italiana in San Remo, einem Vorläufer des ESC, traten 1951 nur drei Interpreten auf, die aber 20 Stücke gemeinsam mit zwei Orchestern performten. Nilla Pizzi, die Sängerin, die „Grazie dei fiori“ („Danke für die Blumen“) über die Ziellinie brachte, wurde damals tatsächlich mit einem Blumenstrauß und 30.000 Lire Preisgeld belohnt – grob: 15 Euro. Die Platte verkaufte sich 36.000 Mal, das Lied wurde ein italienischer Klassiker.

Der Sieg von Lena Meyer-Landrut 2010 war der vorläufige Höhepunkt des hiesigen ESC-Interesses. Es wurde vor 20 Jahren mit Guildo Horns kauzigem Klamauk und der Hingabe von TV-Moderator und Produzent Stefan Raab entfacht. Selbst als die Späßchen ernsthaften Interpreten wie Max Mutzke, Texas Lightning oder Roger Cicero wichen, hielt die Begeisterung an. Zusammen mit der immer schon treuen schwul-lesbischen Community, den ironisierenden „Kult“-Fans und den Schaulustigen kam da jährlich ein bunter Freundeskreis des Wettbewerbs zusammen. Denn exotisch und auch ein bisschen haarsträubend kitschig war das Happening seit jeher. Glühende Verehrer des ESC sagen: der Anfang vom Ende wurde bereits 1999 eingeläutet, als man den Künstlern und Interpreten erlaubte, in einer Sprache ihrer Wahl zu singen.

Doch das eigentlich Traurige ist offensichtlich: Die Welt und die Popmusik sind längst weiter als die Macher des ESC glauben.