1405 erschien Christine de Pizans „Buch von der Stadt der Frauen“. Die frauenfeindlichen Denkmuster, die sie anklagt, sind nicht vom Tisch – wie Metoo beweist und auch die Stuttgarter Choreografin Eva Baumann in ihrer Tanzperformance „herland“ zu bedenken gibt.

Stadtleben/Stadtkultur/Fildern : Andrea Kachelrieß (ak)

Stuttgart - Eine ältere Dame hält bei einer Demonstration ein Transparent hoch, auf dem geschrieben steht: „I can’t believe, I still have to protest this fucking shit“. Das Foto ist Teil der Projektion, mit der die Choreografin Eva Baumann ihrem neuen Tanzstück „herland“ durch einen flirrenden Flow an starken Frauen den Rücken stärkt. Welchen Shit die demonstrierende Feministin für anklagenswert hält, steht nicht auf ihrem Banner. Doch Eva Baumann hat in ihrer begehbaren Installation, mit der sie an drei Abenden einen der Proberäume von Musik der Jahrhunderte im Theaterhaus bespielte, Zettel ausgelegt, um unsere Fantasie anzuregen: Altersarmut steht auf einem, Lohngleichheitsgesetz auf einem anderen. Rabenmutter, Blondinenwitz, Weiberspeck, Quotenfrau, Genitalverstümmelung umreißen weitere Notizen das weite Feld, auf dem sich Eva Baumann und ihre Mitstreiterinnen in den folgenden 80 Minuten bewegen werden.

 

Geschichte und Gegenwart überlagern sich permanent in „herland“, nicht nur, wenn sich die drei Tänzerinnen, locker gekleidet in Trainingsoutfits und so offen für vieles, in Projektionen von alten Gemälden und neuen Pin-ups einfühlen und die Positionen der Bildmotive nachstellen. Überhaupt hält diese Installation nicht nur ihre starken Performerinnen, sondern auch das Publikum permanent in Bewegung. Auch Frauen müssen ständig zwischen Ideal und Wirklichkeit pendeln, die Vielfalt von Rollenbildern fordert ihren Tribut. Tatsächlich war Christine de Pizan die erste Schriftstellerin, die von ihrer Arbeit leben konnte – und musste, nachdem sie diverse Schicksalsschläge dazu zwangen, ihren Mann zu stehen.

Kein Friede in Sicht

Ist wirklich so viel Zeit vergangen, seit Christine de Pizans „Buch von der Stadt der Frauen“ erschienen ist, das für „herland“ Pate stand? 1405 kam es heraus; und die frauenfeindlichen Denkmuster, die Christine de Pizan darin anklagt, sind auch mehr als 600 Jahre später noch immer nicht vom Acker. Exemplarisch bauen die Tänzerinnen in „herland“ aus kleinen Kartons eine schützende Festung, die Christine de Pizans Utopie von einem abgeschlossenen Ort des Denkens über Frauen Form annehmen lässt. Doch die Mauern dieser von Frauen gebauten und regierten Stadt fallen schnell, der erhoffte Friede zwischen den Geschlechtern ist auch ein halbes Jahrtausend später nicht in Sicht.

Aus den Trümmern bauen Eva Baumann, Miriam Gronwald, Mimi Jeong und Kira Senkpiel immer höhere Mauern, die nur mit dem Beistand aller begangen werden können. Immer wieder deutet Eva Baumann in ihrer Performance diese Idee der Solidarität an: Wenn die Tänzerinnen in weißen Reifröcken Bilder von Blüten und Unschuld bemühen, wenn sie zwischen den Zuschauern auf die Suche danach gehen, was ihnen Mütter und Großmütter an Vorbildern und Klischee-Ballast mit auf den Weg gegeben haben, dann wird klar, dass sich persönliche Freiräume nur im Zusammenspiel aller zu einer lebendigen Stadt der Frauen fügen. Deren Extreme macht die niederländische Komponistin und Sängerin Evelien van den Broek mal mit elektrischem Brizzeln, mal mit engelsgleicher Stimme erlebbar. „Herland“ ist nach Eva Baumanns Komponistinnenstück „herstory“ der zweite Teil einer Künstlerinnen und Frauengeschichte gewidmeten Trilogie. Vor allem aber ist diese Performance ein inspirierendes Mutmachstück, von dem man sich wünscht, dass es noch viele Zuschauer findet.