Kaum ein halbes Jahr nach dem erfolgreichen Werk „Folklore“ überrascht der Popstar Taylor Swift mit dem getragenen Schwesteralbum „Evermore“.

Stuttgart - Das war’s, Whitney: Mit ihrem achten Album „Folklore“ ist Taylor Swift endgültig im Chartolymp angekommen. Kaum eine Frau stand in den US-amerikanischen Albumcharts öfter an der Spitze als sie, für die Streamingzahlen zu ihrem letzten Album gibt es sogar einen Eintrag ins Guinnessbuch der Rekorde. Mit den Verkäufen aus nur einer Woche wurde „Folklore“ zum Album des Jahres und heimste viel Lob ein für die fragilen, poetischen, melancholischen Songs.

 

Jetzt geht die ganze Sache von vorne los. Wieder über Nacht, wieder ohne Vorankündigung schenkt uns Swift zwei Tage vor ihrem 31. Geburtstag ein Album, das sie explizit als Schwester zu „Folklore“ verstanden wissen will. Sie holt also wieder den Cardigan aus dem Schrank, flicht die Haare zum Zopf und zitiert erneut ausgiebig Henry David Thoreaus naturnahes Meisterwerk „Walden“. Swift bleibt noch ein Weilchen die verwunschene Folk-Prinzessin, die Musik macht für verregnete Nachmittage, wenn das Licht früh schwindet.

Stücke aus den „Folklore“-Sessions

Keine fünf Monate nach „Folklore“ spinnt Taylor Swift ihr Folk-Märchen weiter, klappt den Kragen hoch und nimmt uns mit auf eine Reise in die nasskalte Natur, durch alte Wälder und entlang dunkler Seen. Das ist stilistisch natürlich keine so große Überraschung mehr wie im Sommer, als die Künstlerin aus Nashville nur elf Monate nach dem kaleidoskopischen Pop-Feuerwerk „Lover“ die Farben aus ihren musikalischen Bildern zog und urplötzlich diese wunderbare Sepia-Musik machte.

Dennoch ist allein das Tempo erstaunlich: „Evermore“ ist ihr drittes Studioalbum in den letzten 16 Monaten, eine Frequenz, die man aus den Sechzigern kennt, als die Rolling Stones oder die Beatles mehrere Platten pro Jahr veröffentlichten. Die neuen Stücke, 15 an der Zahl, entstammen dem Nukleus der „Folklore“-Sessions, geschrieben am Kamin mit Aaron Dessner von den funebren Indie-Rock-Lieblingen The National, ihrem langjährigen Produzenten Jack Antonoff und ihrem Partner Joseph Alwyn, um den lange ein romantisches Geheimnis gestrickt wurde.

Trost suchen in der Musik

Dieselbe Besetzung also, die „Folklore“ sagenhaft erfolgreich durch die Pop-Gewässer steuerte und von großen Meinungsmachern wie dem „Time Magazine“ und dem „Rolling Stone“ für künstlerische Tiefe gelobt wurde. Auch Justin Vernon alias Bon Iver ist wieder in einem Song zu hören. Never change a running system? Das ist eigentlich so gar nicht die Swift’sche Arbeitsweise, die sich zuletzt regelmäßig neu erfand. „Wir fühlten uns, als stünden wir am Rand dieses Folklore-Waldes und müssten uns entscheiden, ob wir kehrtmachen oder uns noch weiter in diesen Wald vorwagen würden“, beschreibt sie die Genesis dieses Schwesteralbums.

Sie wollte aber eben nicht Abschied nehmen, betont sie, und sich lieber noch mehr in diesen Kosmos vertiefen, der für so viele Menschen der Soundtrack des Jahres wurde. Sie suchte Eskapismus, gibt sie zu, und fand „Tragödien, Träumereien und epische Geschichten über gefundene und verlorene Liebe“. Gewidmet sei „Evermore“ deswegen vor allem denjenigen, die auf einsame Feiertage blicken und, wie sie, in der Musik Trost suchen.

Ein Glücksfall für das Musikjahr 2020

Natürlich darf man sich von der improvisierten Form nicht täuschen lassen. Obwohl „Evermore“ über weite Strecken noch reduzierter, noch folkiger und ruhiger wirkt als „Folklore“, ist hier dennoch nichts dem Zufall überlassen. Dagegen sprechen schon die insgesamt 15 beteiligten Musiker. Dennoch, und da kann man nur die im Sommer getätigten Aussagen wiederholen, ist „Evermore“ ein absoluter Glücksfall für das Musikjahr 2020. Dass eine Künstlerin wie Taylor Swift derart ungeniert die Hüllen fallen lässt, den kaleidoskopischen Budenzauber ihrer überbordenden Konzerte gegen die Stille und die Einkehr eintauscht, ist nicht nur sehr selten – es untermauert die Vielschichtigkeit einer der wichtigsten US-amerikanischen Künstlerinnen des 21. Jahrhunderts.

Taylor Swift schüttet uns ihr Herz aus. Das hat sie immer getan, auch im süßesten Bubblegum-Pop steckten echte Gefühle, die ihre Fans, die Swifties, abermillionenfach teilten, verstanden, nah am Herzen trugen. Besser oder schlechter als der sagenhaft erfolgreiche Vorgänger? Das spielt da keine Rolle. Dieses Werk ist eher ein Nachsatz zu „Folklore“, qualitativ auf ebenso hohem Niveau.

Ein durch und durch feminines Album

„Evermore“ ist leise, erzählt kleine nachdenkliche Geschichten, verpackt in wunderbar arrangierte, lakonische Wintersongs in Moll. In „No Body, no Crime“ huldigt Swift mit Unterstützung der Damenbande Haim ihren Country-Wurzeln und legt eine astreine „Murder Ballad“ vor, „Coney Island“ beschwört neblige Brooklyn-Nostalgie mit jeder Menge Wehmut und einem starken Auftritt von The-National-Sänger Matt Berninger, der Titelsong wird auch durch Bon Iver zu einem Manifest der Melancholie. Was genau in den Texten steckt, wird die Swifties die nächsten Wochen beschäftigt halten.

Ruhig, in sich gekehrt, fast schon sakral in seiner elegischen Aura: Swift vertont die schwierige Heimkehr in die elterliche Stadt und die alten Probleme zu Weihnachten, die Nichtigkeiten, die uns das Leben schwer machen, die Wichtigkeit, mit Dingen abzuschließen – „Closure“ zu erlangen, wie eines der neuen Stücke heißt. Wie „Folklore“ spart „Evermore“ die großen feministischen Gesten aus und ist im Subtext doch ein durch und durch feminines Album, das Swifts längst angenommene Rolle als politisch laute Meinungsmacherin untermauert.

Die Welt weiß, wie ihr Herz schlägt

Nach allem, was war, nach ihren Anti-Trump-Tweets der letzten Monate, braucht Taylor Swift keinen Song, in dem sie Joe Biden preist, sich für Abtreibung und gegen Rassismus einsetzt oder mit der Ära Trump abrechnet. Die Welt weiß längst, wie ihr Herz schlägt, sie ist das, was alle anderen Popstars so gern wären: verlässlich, nahbar. Zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres gelingt ihr, wonach viele andere ein Leben lang trachten: Erneut illuminiert Taylor Swift ein verkorkstes Jahr mit einem nackten, puren, wohltuenden Album.

Facts zur Pop-Prinzessin

Zahlen
Der Vorgänger „Folklore“ wurde auf Spotify in den USA binnen eines Tages übe 44 Millionen Mal gestreamt. Weltweit waren es über 80 Millionen Streams. Die 16 Songs des Albums belegten die ersten 16 Ränge des Streamingriesen.

Rekorde
Taylor Swift ist seit Barbra Streisand die erste Künstlerin, die sechs ihrer Alben gleich mehrere Wochen an der Spitze der US-Albumcharts halten konnte. Seit 2003 hat Taylor Swift über 200 Millionen Alben verkauft. Das macht sie zur dritterfolgreichsten Künstlerin aller Zeiten hinter Madonna und Rihanna.

Album „
Evermore“ (Universal) ist am Freitag, 11. Dezember, erschienen.