Der Tübinger Staatsrechtler Martin Nettesheim nennt die Legende vom Fortbestand des Deutschen Reichs eine „Fantasie“. Den Behörden empfiehlt er, die Rechtsverstöße deren Anhänger „wie bei jedem anderen“ zu sanktionieren.

Tübingen - Wer an den Fortbestand das Deutsche Reichs glaubt, hat keinen Anspruch, von staatlichen Institutionen erst genommen zu werden, sagt der Tübinger Staatsrechtler Martin Nettesheim.
Herr Nettesheim, ist es möglich, sich zum Bürger des Deutschen Reichs zu erklären?
Jeder kann sich zum Angehörigen eines fiktiven Gemeinwesens erklären. Man kann seine persönliche Identität grundsätzlich frei bestimmen; das wird durch die Grundrechte geschützt. Rechtlich ist es aber unmöglich, sich heute noch zum Angehörigen des Deutschen Reichs zu erklären. Das Deutsche Reich ist zwar – so das Bundesverfassungsgericht – nicht mit dem Kriegsende 1945 untergegangen, sondern bestand auch nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland fort. Es war ab 1949 mit der Bundesrepublik Deutschland teilidentisch. Mit der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 und dem Inkrafttreten des Zwei-plus-vier-Vertrags am 15. März 1991 löste es sich aber ersatzlos auf. Heute gibt es nur noch die Bundesrepublik Deutschland. Die Staatsangehörigkeit kann daher auch nur die Mitgliedschaft in diesem Staat umfassen. Ein davon getrenntes Rechtssubjekt „Deutsches Reich“, dessen Mitglied man sein könnte, gibt es nicht.
Welche konkreten Folgen ergeben sich für Menschen, die so handeln?
Solange man sich an die geltenden Gesetze hält und nichts unternimmt, um die verfassungsmäßige Ordnung zu beseitigen, kann man sich seinen Fantasien hingeben. Man hat allerdings keinen Anspruch darauf, von den staatlichen Amtsträgern ernst genommen zu werden. Schon gar nicht besteht eine berechtigte Erwartung, dass die staatlichen Amtsträger der Fantasie folgen.
Wie sollten die Behörden bei konkreten Rechtsverstößen mit ihnen umgehen?
Rechtsverstöße sind in rechtsstaatlicher und gleicher Weise wie bei jedem anderen zu sanktionieren. Der Glaube an den Fortbestand des Deutschen Reichs darf weder zu einer Besserstellung noch zu einer besonderen Härte der Sanktion führen.