Reportage: Frank Buchmeier (buc)

Das Freudenfest in der Marbacher Stadthalle steuert auf den Höhepunkt zu. „Ravi, this song is for you“, haucht Sandra Kecker ins Mikrofon und singt eine textlich leicht veränderte Dieter-Bohlen-Komposition: „Ravi, your my angel, my guardian angel.“ Dem Schutzengel schießen die Tränen in die Augen. Ravi steht auf, umarmt seine Schwester, drückt sie fest an sich. Passend zur andächtigen Stille, die nun im Saal herrscht, segnet der Ortspfarrer Dieterle die hinduistisch-evangelische Familie: „God bless you. Der Herr schütze euch.“

 

Im vergangenen Jahr berichtete Sandra Kecker in der Stuttgarter Zeitung von dem unfassbaren Glück, dass sie mit 32 Jahren einen leiblichen Bruder gefunden hatte. Die SWR-Redakteurin Andrea Lotter las den Bericht und beschloss, die Identitätssuche der indischen Schwäbin mit der Kamera nachträglich zu dokumentieren. Der aufwendig produzierte Film wird am 19. August in der Reihe „Landesschau unterwegs“ ausgestrahlt. Anfang April flog Andrea Lotter extra nach Bangalore, um Ravi im Slum zu besuchen. Sie lernte einen quietschvergnügten Mann kennen, „der lange ums Überleben gekämpft hat“.

Als Zwölfjähriger verließ Ravi seine Familie, um sich alleine in Mumbai durchzuschlagen. Nach dem Tod der Eltern und der älteren Schwester Gowri kehrte er nach Bangalore zurück. 2006 starben die jüngeren Brüder Kumar und Kanna unter mysteriösen Umständen in   polizeilichem Gewahrsam. Fortan glaubte Ravi, dass er keine Geschwister mehr habe. Bis im vergangenen Sommer, in der Hochzeit des Monsuns, plötzlich die kleine Schwester aus Deutschland vor ihm stand.

Noch wundersamer ist das Geschehen dadurch geworden, dass Ravi nun von einem Fernsehteam dabei gefilmt wird, wie er im Leinfeldener Marktkauf ungläubig vor Regalen steht, die meterhoch mit Klopapier und Fruchtjoghurt gefüllt sind. Oder wie er in der Elisabethenkirche im Stuttgarter Westen beim Klang der Orgel von seinen Emotionen übermannt wird. Wie soll Ravi all diese verwirrenden Eindrücke verkraften? „Um ihn müssen wir uns keine Sorgen machen“, meint die SWR-Redakteurin Andrea Lotter. „Ravi genießt die drei Monate in Deutschland und wird anschließend in seiner Heimat weiterleben wie zuvor. Inder können die Dinge viel besser so akzeptieren, wie sie sind, als wir Deutschen.“

Nicht alle sind glücklich über die Familienzusammenführung

Neun Monate später gibt Sandra Kecker in der Marbacher Stadthalle ein Freudenfest. „Ravi kommt nach Deutschland!“ steht auf den Einladungen. Das frisch vereinte Geschwisterpaar hat den vordersten Tisch für sich reserviert. Er trägt einen glänzenden Anzug wie John Travolta in „Saturday Night Fever“, sie eine knallrote Robe wie Julia Roberts bei einer Oscargala. Rechts neben Ravi sitzt seine Ehefrau Anusha, links neben Sandra ihr Gatte Marco. Den Kreis schließt Matu, die eigentlich Patientin des Arztes ist, bei welchem Sandra Kecker angestellt ist. An diesem Nachmittag fungiert die junge Frau aus Sri Lanka als Schwäbisch-Tamil-Dolmetscherin: Ravi beherrscht nur wenige Brocken Englisch, er ist auf Zeichensprache und Matu angewiesen, wenn er sich mit den Gästen verständigen will. „Do you like Germany?“, fragt jemand. Ravi nickt.

Im Saal geht es sehr deutsch zu: Bohnerwachsboden, Tischdecken, Filterkaffee, Kondensmilch, Kuchenbüfett. Die holzvertäfelte Wand zieren geflügelte Schiller-Worte „Sehn wir doch das Große aller Zeiten/Auf den Brettern, die die Welt bedeuten/Sinnvoll still an uns vorübergehn.“

Sandra Kecker hält eine kurze Begrüßungsrede: Ihr Bruder Ravi ist etwa 50 Jahre alt, so ganz genau weiß er das selbst nicht. Am 13. April ist er mit Anusha in Stuttgart gelandet, am 8. Juli fliegen sie zurück nach Bangalore. Die Reise hat ihnen selbstverständlich die Familie Kecker spendiert. Weil die indischen Gäste zurzeit jedoch kein Geld verdienen können, steht auf dem Tisch an der Fensterfront eine Spendendose, in die man ein paar Euro schmeißen kann.

Nicht einmal einen Tag haben Sandra und Ravi zuvor miteinander verbracht, nun sitzen sie zu sechst – die beiden Paare und die zwei Kecker-Kinder – ein Vierteljahr lang in einer Hundertquadratmeterwohnung in Leinfelden. Kann das gutgehen? Die kulturellen Unterschiede zwischen Bangalore und Württemberg sind beträchtlich, und zwischen der dravidischen Sprache Tamil und dem Germanischen gibt es überhaupt keine Verbindung. „Ehrlich gesagt, hatte ich ernsthafte Bedenken, ob wir miteinander klarkommen“, sagt Marco Kecker. „Aber der Umgang mit Ravi und Anusha hat sich als total unkompliziert herausgestellt Die beiden sind extrem anpassungsfähig, sie machen alles mit, was wir ihnen anbieten.“

Ravi und Anusha freuen sich, wenn ihnen das Siebenmühlental, die Wilhelma oder Heidelberg gezeigt werden, sie sitzen aber auch gerne stundenlang auf dem Sofa und schauen drei Bollywoodfilme hintereinander. Das schwäbische Essen passen sie mit Chilipulver ihrem Reizempfinden an. Nur bei Ikea lassen sie eine Mahlzeit stehen, der lasche Schwedenschmaus erweist sich als inkompatibel mit indischen Geschmacksnerven. In Sandras Küche demonstriert Anusha regelmäßig, was die südasiatische Kochkunst auszeichnet, während Ravi freiwillig zum Staubsauger greift. „Zwischen uns herrscht vollkommene Harmonie“, schwärmt Marco Kecker.

Bruder und Schutzengel

Das Freudenfest in der Marbacher Stadthalle steuert auf den Höhepunkt zu. „Ravi, this song is for you“, haucht Sandra Kecker ins Mikrofon und singt eine textlich leicht veränderte Dieter-Bohlen-Komposition: „Ravi, your my angel, my guardian angel.“ Dem Schutzengel schießen die Tränen in die Augen. Ravi steht auf, umarmt seine Schwester, drückt sie fest an sich. Passend zur andächtigen Stille, die nun im Saal herrscht, segnet der Ortspfarrer Dieterle die hinduistisch-evangelische Familie: „God bless you. Der Herr schütze euch.“

Im vergangenen Jahr berichtete Sandra Kecker in der Stuttgarter Zeitung von dem unfassbaren Glück, dass sie mit 32 Jahren einen leiblichen Bruder gefunden hatte. Die SWR-Redakteurin Andrea Lotter las den Bericht und beschloss, die Identitätssuche der indischen Schwäbin mit der Kamera nachträglich zu dokumentieren. Der aufwendig produzierte Film wird am 19. August in der Reihe „Landesschau unterwegs“ ausgestrahlt. Anfang April flog Andrea Lotter extra nach Bangalore, um Ravi im Slum zu besuchen. Sie lernte einen quietschvergnügten Mann kennen, „der lange ums Überleben gekämpft hat“.

Als Zwölfjähriger verließ Ravi seine Familie, um sich alleine in Mumbai durchzuschlagen. Nach dem Tod der Eltern und der älteren Schwester Gowri kehrte er nach Bangalore zurück. 2006 starben die jüngeren Brüder Kumar und Kanna unter mysteriösen Umständen in   polizeilichem Gewahrsam. Fortan glaubte Ravi, dass er keine Geschwister mehr habe. Bis im vergangenen Sommer, in der Hochzeit des Monsuns, plötzlich die kleine Schwester aus Deutschland vor ihm stand.

Noch wundersamer ist das Geschehen dadurch geworden, dass Ravi nun von einem Fernsehteam dabei gefilmt wird, wie er im Leinfeldener Marktkauf ungläubig vor Regalen steht, die meterhoch mit Klopapier und Fruchtjoghurt gefüllt sind. Oder wie er in der Elisabethenkirche im Stuttgarter Westen beim Klang der Orgel von seinen Emotionen übermannt wird. Wie soll Ravi all diese verwirrenden Eindrücke verkraften? „Um ihn müssen wir uns keine Sorgen machen“, meint die SWR-Redakteurin Andrea Lotter. „Ravi genießt die drei Monate in Deutschland und wird anschließend in seiner Heimat weiterleben wie zuvor. Inder können die Dinge viel besser so akzeptieren, wie sie sind, als wir Deutschen.“

Nicht alle sind glücklich über die Familienzusammenführung

Sandra hat seit dem vergangenem Jahr nicht nur schwäbische Verwandtschaft, sondern auch indische. Reibungslos verläuft die interkontinentale Familienzusammenführung nicht. Sandras herzlicher Umgang mit Ravi verstört ihren Adoptivbruder. „Viel Spaß mit deinem richtigen Bruder“, schreibt Daniel kurz vor dem Fest an Sandra, und: „Den Fernsehfilm drehst du doch nur, damit du der Welt zeigen kannst, dass ich nicht dein Bruder bin.“ Zeilen, die Enttäuschung, Verlustangst und Eifersucht signalisieren.

Im Foyer der Marbacher Stadthalle steht Lore Roth, aus dem Saal dringt ein Partyhit: „Rhythm is a Dancer/free your Mind and join us.“ Der 75-Jährigen ist nicht nach Tanzen zumute, sie befreit ihren Geist lieber, indem sie in Erinnerungen schwelgt.

Als Lore Roth an Christi Himmelfahrt 1985 mit ihrem Mann Siegfried die Gangway am Bangalore International Airport hinuntergeht, entdeckt sie sofort das kleine Mädchen, das sich neugierig die Nase an der Scheibe des Terminals platt drückt. Noch bevor sie ihrer Sandra einen Steiff-Teddybären überreichen kann, nimmt die Fünfjährige ihre neuen Eltern in den Arm. Dem Ehepaar aus Marbach ist von diesem Moment an klar, dass sich der bürokratische Aufwand, den es für die Auslandsadoption auf sich nehmen musste, gelohnt hat: „Bevor man ein indisches Waisenkind bekommt, schauen einem die Leute vom Jugendamt ja sogar ins Küchenbüfett.“

Spuren der Veränderung

Drei Jahre später nehmen die Roths für Daniel das Prozedere noch einmal auf sich. Als der Junge fünf ist, werden Tumore in seinem Darm entdeckt. Er scheint verloren, im letzten Moment rettet ihn eine Operation in der Universitätsklinik. Die Adoption hat Daniel vor einem frühen Tod bewahrt. „In Indien hätte mein Sohn keine Chance gehabt“, sagt Lore Roth.

1999 stirbt ihr Mann Siegfried an einem Bronchialkarzinom, er hatte als Feuerwehrkommandant zu häufig giftige Brandgase eingeatmet. Im selben Jahr hätte Sandra in Heidelberg ihre Ausbildung zur Kinderkrankenschwester beginnen können, stattdessen bleibt sie zunächst in Marbach, um ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder beizustehen. Lore Roth versichert: „Wir haben immer ganz fest zusammengehalten.“

Gefährdet Ravi diese engen Bande? „Selbstverständlich nicht“, sagt Sandra Kecker. „Daniel wird immer mein Bruder bleiben, ihn und meine Mama liebe ich sehr.“ Das Bemühen, es allen recht zu machen, hat bei der 33-Jährigen Spuren hinterlassen: Fünf Kilo nahm Sandra Kecker in den vergangenen Wochen ungewollt ab. Doch ein Freudenfest sei nicht der Moment, um über Probleme zu sprechen. „Jetzt tanze ich einen Walzer“, sagt sie und schwebt in ihrer knallroten Robe aufs Parkett.

Die Vorgeschichte gibt es unter
http://stzlinx.de/sandra