Seit mehr als 20 Jahren betreibt Karl-Heinz Wüstner Familienforschung. Nun haben sich mehr als 40 Briten ins Schwäbische aufgemacht, um ihre deutschen Verwandten kennenzulernen. Ein Besuch führte nach Stuttgart.

Die Spuren führen von Künzelsau über Großbritannien nach Stuttgart. Und vom 19. Jahrhundert in die Gegenwart. Als Helen Stewart aus Pately Bridge bei Harrogate durch Vermittlung des Hohenloher Heimatforschers Karl-Heinz Wüstner kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie Ende 2019 unsere Zeitung um Hilfe bat, konnte noch keiner ahnen, welcher Erfolg ihrer Suche nach der entfernten deutschen Verwandtschaft beschieden sein sollte – wenn auch mit fast dreijähriger Verzögerung.

 

Metzger wanderten auf die Insel aus

Stewarts Vorfahren waren vor mehr als 140 Jahren als Metzger aus dem Hohenlohischen auf die britische Insel ausgewandert. Ebenso wie rund 3000 weitere junge Männer und Frauen, so die Schätzungen der Experten. Die Gründe für den Exodus sind vielfältig: Viele entflohen der Armut, andere nach 1871 dem Zugriff des preußischen Militärs. Doch tatsächlich hatten die „German pork butchers“ im industriell aufstrebenden England des 19. Jahrhunderts „schlichtweg auch eine Marktlücke entdeckt“, erklärt der Heimatforscher Wüstner.

Deutsche Metzger setzten auf Essen zum Mitnehmen

Anders als ihre englischen Kollegen, die vor allem auf Rind und Lamm setzten, boten die deutschen Metzger in den vom Manchesterkapitalismus geprägten englischen Metropolen preisgünstiges Schweinefleisch an. Weil die findigen Hohenloher auch Mahlzeiten in ihren Metzgereien zubereiteten, konnten sie den Fabrikarbeitern zudem Essen zum Mitnehmen anbieten – bis dato eine in Großbritannien unbekannte Geschäftsidee. Der Erfolg blieb nicht aus, was nach und nach immer mehr Auswanderungswillige aus Hohenlohe anlockte.

20 Jahre Suche in der Familiengeschichte

Einer davon war 1874 der Künzelsauer Christian Alexander Stein, Stewarts Urgroßvater. Stein betrieb in Castleford nahe Leeds eine Metzgerei. Er zeugte acht Kinder, brachte es zu einigem Wohlstand und blieb bis an sein Lebensende in England. „Spätestens mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs kappen dann viele ihre Verbindungen in die alte Heimat“, sagt Wüstner. Seit mehr als 20 Jahren rekonstruiert der Ilshofener diese vergessenen Auswanderergeschichten.

Fündig wurde man in der Region Stuttgart

Die Spur nach Stuttgart legten im 19. Jahrhundert indes die in Württemberg verbliebenen Verwandten: „Von den im ländlichen Hohenlohe Daheimgebliebenen nützen Jahrzehnte später viele die verlockende Industrialisierung im Mittleren Neckarraum und ziehen in die Region Stuttgart“, erklärt Wüstner. Die Hoffnung war deshalb groß, genau hier fündig zu werden. Und so kam es dann auch.

Zahlreiche Leser hatten sich Ende 2019 auf die Beiträge unserer Zeitung zu den Metzgerauswanderern bei Wüstner gemeldet. So die heute in Bayern lebende Iris Strecker, die über ihre in Waiblingen lebende Schwester von Stewarts und Wüstners Suche erfahren hatte. Ihre Großtante Olive Strecker hatte einst einen Sohn Alexander Steins geheiratet. Ebenso knüpfte Wüstner jetzt auch den Kontakt zu Margot Büxenstein aus Stuttgart-Wangen, die eine Nachfahrin einer Schwester von Alexander Stein ist.

Tatsächlich stattfinden konnte die Zusammenführung der durch die Jahrhunderte getrennten Familienangehörigen freilich nur mit Verspätung. Corona hatte 2020 ein bereits geplantes Treffen zwischen Briten und Deutschen in Hohenlohe verhindert. Erst in diesem Sommer traten auf Einladung von Wüstner schließlich 42 Gäste aus ganz Großbritannien eine fünftägige Reise zu ihren familiären Wurzeln an.

Auf diese Weise haben nun auch Helen Stewart und ihre Schwester Alison Stobart ihre entfernte Stuttgarter Cousine Margot Büxenstein kennengelernt. „Es war, als ob wir die beiden schon ewig kennen würden“, erzählt Büxenstein und zeigt Fotografien des Familientreffens. „Wir haben beide im Anschluss zu uns nach Wangen eingeladen und ihnen Stuttgart gezeigt.“ Helen Stewart war von der Reise nach Deutschland tief berührt: „Diese Orte zu besuchen und das Haus meiner Vorfahren zu finden – das ist sehr emotional“, so die Engländerin.

Bei dem Treffen in Hohenlohe überraschte Wüstner die britischen Besucher auch mit neuestens Ergebnissen seiner Forschungen: So erfuhren sieben der englischen Teilnehmer aus England und Schottland, die zuvor noch nie voneinander gehört hatten, dass sie über ihre deutschen Vorfahren miteinander verwandt sind. „Die Freude war riesig“, sagt Wüstner. Mit von der Partie waren bei der deutsch-englischen Zusammenkunft im August auch Schüler des Backnanger Max-Born-Gymnasiums. Sie dokumentierten das Ereignis für ein englischsprachiges Radioprojekt der Schule.