Erweiterte Suizide sind aufwühlend, unfassbar, tragisch. Was können Alarmzeichen sein? Wurden sie im Fall von Solingen, wo eine Mutter fünf ihrer sechs Kinder getötet haben soll, übersehen?

Stuttgart - Wie konnte es zu der furchtbaren Tat von Solingen kommen? Eine Mutter steht im Verdacht, am Donnerstag fünf ihrer sechs Kinder getötet zu haben. Nur der älteste Sohn (11) überlebte. Sie selbst versuchte, sich nach der Tat das Leben zu nehmen. Wurden Warnsignale übersehen?

 

Was ist „erweiterter Suizid“?

Der Begriff, synonym auch Mitnahmesuizid genannt, bezieht sich auf Taten, die das nahe Umfeld eines Täters oder einer Täterin betreffen. Er wird vor allem auf Familientragödien angewandt. Im Englischen sprechen Psychologen etwas weiter gefasst auch von „murder-suicide“ (auf deutsch: Mord-Suizid). Zur Selbsttötung entschlossene Menschen töten dabei ihre Partner, Kinder oder andere Angehörige, weil sie sie angeblich nicht allein zurücklassen wollen. Dann legen sie selbst Hand an sich an.

Auslöser kann nach Angaben von Lorenz Böllinger, emeritierter Professor für Strafrecht und Kriminologie, ein „Erlebnis von absoluter Verzweiflung“ sein. „Das kann ein schleichender Prozess sein, der dann im Zusammenbruch der Persönlichkeit mündet“, sagte er gegenüber unserer Zeitung. Weitere Beispiele von erweitertem Suizid sind etwa bewusstes Falschfahren auf der Autobahn - und nach Definition einiger Experten sogar Amokläufe.

„Ein Psychologe zum Solinger Fall: Mutter wohl überfordert“

Gibt es Warnsignale?

Laut der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention (DGS) nehmen sich in Deutschland jedes Jahr ungefähr 10 000 Menschen das Leben. Einen Suizidversuch überleben etwa 100 000 Menschen. Jeder einzelne dieser Versuche kann nach Angaben der DGS als Hilferuf interpretiert werden und sei deshalb ernst zu nehmen. Vor ihren Taten sendeten Gefährdete in der Regel Signale aus – auch weil sie hofften, dass jemand darauf reagiert und ihnen hilft. Wer Warnsignale wahrnehme, solle so früh wie möglich tätig werden: „Man kann als Angehöriger, Freund oder Nachbar zum Beispiel den Sozialpsychiatrischen Dienst oder das Jugendamt informieren“, sagt Böllinger.

Alarmzeichen können unter anderem starke Stimmungsschwankungen sein, Niedergeschlagenheit, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung bis hin zum sozialen Rückzug. Dazu kann Verwahrlosung sowie Alkohol- und Drogenmissbrauch kommen. Oft äußern sich die Gefährdeten auch über den Tod und das Sterben. Ein Großteil der Suizidfälle steht im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen. Doch auch akute, schwere Lebenskrisen können ein Auslöser sein.

Nach Angaben des Statistischen Bundesamts nehmen sich Männer häufiger das Leben als Frauen. Bei den 9396 Fällen im Jahr 2018 waren etwa 76 Prozent Männern. Das durchschnittliche Alter von Männern lag zum Zeitpunkt des Suizids bei 57,9 Jahren. Frauen waren im Durchschnitt 59,1 Jahre alt. Insgesamt ist die Zahl der Suizide in den vergangenen Jahren deutlich zurück¬gegangen: So nahmen sich 1980 noch mehr als 18 000 Menschen das Leben.

Wie oft kommt zu Taten wie in Solingen?

Erweiterte Suizide sind aufwühlend, unfassbar, tragisch. Sie kommen jedoch nicht häufig vor. Es gibt unterschiedliche Schätzungen. Laut machen Experten sind etwa vier Prozent aller Suizide in Deutschland auf andere Menschen erweitert. Auch der Rechtsexperte Böllinger sagt, dass derartige Taten sehr selten sind. Er geht von einem Prozent aus: „Es kommt etwa einhundertmal öfter zu Suiziden als zu erweiterten Suiziden.“

Warum manche suizidgefährdete Menschen überhaupt versuchen, auch noch andere Menschen zu töten - diese Frage beschäftigt Kriminologen und Psychologen immer wieder. Eine mögliche Antwort können Verlustängste sein. Mitunter sind es laut Böllinger auch Rachegedanken. Der Fall von Solingen jedoch deute auf eine völlige Überforderung und eine Hilf- und Perspektivlosigkeit der Mutter hin.

Sie haben suizidale Gedanken? Hilfe bietet die Telefonseelsorge. Sie ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr unter 0 800 / 111 0 111 und 0 800 / 111 0 222 und unter https://ts-im-internet.de/ erreichbar. Eine Liste mit Hilfsangeboten findet sich auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention: https://www.suizidprophylaxe.de/