Ultras sind ein fester Bestandteil der Fußballlandschaft. Fanforscher Jonas Gabler erklärt, wie die Subkultur nach Deutschland kam, welche Bedeutung diese Gruppen haben und welche Herausforderungen auf sie zukommen.

Sport: Philipp Maisel (pma)

Stuttgart - Sie sind laut, bunt, kritisch, schlagen auch gern über die Stränge, kurzum: sie polarisieren. Ultras sind aus der Fußballlandschaft nicht wegzudenken. Die Subkultur hat ihre Wurzeln in Italien, in Deutschland etablierte sie sich in den Neunzigerjahren. Fanforscher Jonas Gabler beschäftigt sich seit Jahren mit Ultras und ihrer Kultur. Der Diplom-Politologe ist Autor mehrerer Bücher rund um den Themenkomplex Fankultur. Gabler ist Mitbegründer der „Kompetenzgruppe Fankulturen & Sportbezogene Sozialarbeit“ (KoFaS) mit Sitz in Hannover, der neben ihm weitere Fanforscher angehören.

 

Im Gespräch erklärt er, wie die Ultrakultur nach Deutschland kam, welche Bedeutung diese Gruppen haben und welche Herausforderungen zukünftig auf sie warten.

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Herr Gabler, die Ultra-Kultur ist in Deutschland nicht mehr aus der Fußballlandschaft wegzudenken. Welche Bedeutung kommt diesen Gruppen mittlerweile zu?

„Das ist richtig. Seit spätestens 15 Jahren gibt es eigentlich an allen Fußballstandorten in Deutschland solche Gruppen, die das Erscheinungsbild der Fankurve und die Art der Unterstützung ihrer Mannschaft ganz entscheidend prägen. Das beginnt bei den selbst finanzierten und gebastelten Choreografien, aber auch bei der Koordinierung des Supports durch die Vorsänger, die diesen mit Megafonen und Anlagen maßgeblich mitbestimmen. Vor diesem Hintergrund kann man klar sagen, dass Ultras die Stimmung in den Stadien prägen. Und jenseits davon kann man auch darüber sprechen, dass die Ultras eine ganze Subkultur von Jugendlichen und jungen Erwachsenen prägen. Das gibt dem Ganzen noch einmal eine andere Ebene.“

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Warum hat es so lange gedauert, bis diese Subkultur, die in Italien beispielsweise schon in den Sechzigerjahren groß wurde, in Deutschland angekommen ist?

„Als in Deutschland Ende der Sechziger-, Anfang der Siebzigerjahre Fankultur so richtig entstanden ist, waren die Blicke eher Richtung England gerichtet. Dort waren die Fans in Cliquen und weniger in auf Mitgliederwachstum bedachten Gruppen organisiert, der Support war spontaner und eher am Spiel orientiert, Fahnen spielten eine untergeordnete Rolle. Dennoch haben sich damals in Deutschland erste Fanclubs gebildet und die wurden eben vom britischen Stil geprägt. Zu Beginn der Neunzigerjahre hat sich das komplett geändert. Die WM in Italien, der Erfolg der italienischen Liga und viele bekannte deutsche Stars wie Lothar Matthäus, Jürgen Klinsmann und Andi Brehme, die in Italien gespielt haben, trugen dazu bei. Italienischer Fußball kam in Deutschland im Free TV, es gab Formate wie „ranissimo“, Bilder aus Italien prägten das Bild. Parallel dazu gab es in England einen Niedergang der Fankultur, Stehplätze wurden abgeschafft. Wenig später gründeten sich in Deutschland erste Ultra-Gruppen.“

Inwiefern unterscheidet sich die deutsche Szene von der in anderen Ländern?

„Was die deutsche Fankultur hier abgrenzt, ist der Umstand, dass sie einen hohen Organisationsgrad hat. Sie ist sehr strukturiert, fanpolitisch aktiver, sucht viel ernsthafter den Diskurs mit Vereinen und Verbänden. Der fanpolitische Aktivismus ist viel deutlicher ausgeprägt. Und im Vergleich zu Osteuropa oder Italien ist die allgemeine politische Positionierung dieser Szene schwächer ausgeprägt, was zum Beispiel Rechtsextremismus anbelangt. Es gibt in Deutschland viel mehr Gruppen, die sich aktiv gegen Rassismus und Antisemitismus positionieren und engagieren. Das ist positiv hervorzuheben.“

Was ist noch anzuführen?

„Was ebenfalls hervorsticht, ist ein reflektierter Umgang mit Gewalt. Es gibt natürlich Gewaltvorfälle, es gab und gibt Schwerverletzte, es gab in Deutschland auch schon Tote, zuletzt mit dem Fall eines Magdeburger Anhängers. Aber wenn man insbesondere nach Osteuropa oder auch Italien schaut, dann gibt es da eine lange Liste von Todesopfern, sei es durch Auseinandersetzungen zwischen Ultras oder jene mit der Polizei. Das hat auch damit zu tun, dass in Deutschland beispielsweise der Gebrauch von Waffen bei solchen Auseinandersetzungen stärker tabuisiert ist, als in den angesprochenen Ländern.“

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In Deutschland war mit dem Aufkommen der Szenen gegen Mitte der Neunzigerjahre zu beobachten, dass sowohl das Thema Gewalt als auch das Thema Rassismus abgenommen haben. Was genau ist da passiert?

„Die Ultra-Kultur hat das Stimmungsmonopol in den Kurven. Dadurch stehen sie stärker im Fokus und haben eine gewisse Verantwortung, die ihnen von den Vereinen, Verbänden und auch den anderen Fans zugeschrieben wird. Diese Verantwortung nehmen sie auch an. In dem angesprochenen Zeitraum gab es in Deutschland einen aktiven Diskurs, etwa in den „Fanzines“, den Magazinen der Anhänger, aber auch durch das „Bündnis aktiver Fußballfans“ (B.A.F.F.), die fankulturelle und fanpolitische Themen vorangetrieben haben. An diese Diskurse haben die Ultras angeknüpft. Bestimmte Formen der Diskriminierung wurden einfach als nicht mehr zeitgemäß empfunden. Es fand ein Bewusstseinswandel statt. Eine Abwertung des Gegners gehörte zwar nach wie vor dazu, aber diese Abwertung muss eben nicht durch eine rassistische oder antisemitische Abwertung passieren. Wenn damals noch solche Gesänge aus der Kurve kamen, wurde eben nicht mehr in diese eingestimmt, sondern sie wurden mit einem Support-Gesang für das eigene Team überstimmt. So haben die Ultras auf dieser für alle im Stadion akustisch wahrnehmbaren Ebene dafür gesorgt, dass bis heute rassistische Schlachtrufe oder Gesänge viel weniger oder gar nicht mehr wahrnehmbar sind.“

Welche Bedeutung kommt den Gruppen, gerade hinsichtlich des vielerorts spürbaren Rechtsrucks in der Gesellschaft, der auch in Fußballstadien teils offen zur Schau getragen wird – zuletzt in Münster am vergangenen Wochenende – zu?

„Diese Entwicklung ist sowohl gesamtgesellschaftlich als auch in den Stadien und auch rund um die Ultragruppen zu beobachten. Es ist keineswegs so, dass eine Ultragruppe als solche immun wäre gegen extrem rechtes oder diskriminierendes Gedankengut. Es ist Deutschland aber schon Gott sei Dank so, dass die Mehrheit der Gruppen ein distanziertes oder sogar oft engagiertes Verhältnis gegen Diskriminierung hat. Aber es gibt auch genügend Ausnahmen und oft auch Hooligangruppen, die innerhalb der eigenen Fanszene erstarken und mit teils extrem rechten Gedankengut sympathisieren. Daher ist es geboten, dass die Ultragruppen – aber auch jeder andere Fan – aktiver werden, lauter werden und sich noch deutlicher positionieren. Doch das ist eben nicht ohne Risiko. Daher muss auch an die Vereine, Ordnungsdienste und auch an die Polizei appelliert werden, ein wachsameres Auge zu haben. So muss sofort gehandelt werden, wenn sich Personen, die sich gegen Diskriminierung engagieren, bedroht oder angegriffen werden. Es ist ganz wichtig, dass diese Personen das Stadion als sichere Ort wahrnehmen. Da kommt sowohl den Ultras als auch allen anderen Akteuren rund um den Fußball eine besondere Rolle zu.“

In Baden-Württemberg haben Ultragruppen im vergangenen Jahr außerhalb des Stadions eine Protestbewegung gegen die geplante Verschärfung des Polizeigesetzes mitinitiiert. Man setzte sich für den Schutz der Freiheits- und Bürgerrechte aller ein.

„Das finde ich überhaupt nicht verwunderlich. Diese Gruppen, in der Regel weiß, deutsch, männlich, die sonst eher seltener Grundrechtseingriffe der Behörden befürchten müssen, spüren als Fußballfans sehr wohl am eigenen Leib, wenn die staatlichen Zügel – etwa durch Kontrollmechanismen – angezogen werden. Sie wissen als Fußballfans ganz genau, welche Grundrechtseingriffe man erfahren kann. Das macht sie sensibel für solche Themen und sorgt für einen kritischen Blick gegenüber staatlichen Institutionen, die über weitreichende Befugnisse verfügen.“

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Welche grundsätzlichen Entwicklungen sehen Sie in der deutschen Szene?

„Das ist schwierig zu sagen. Was als Trend zu beobachten ist, ist die Ausdifferenzierung der Ultrakultur. Sie differenziert sich aus bezüglich der Haltung zu Gewalt, zu Diskriminierung, zu Support. Es gibt schon heute an kaum einem Standort mehr die eine große Gruppe, die für den Club steht. Sondern es gibt überall mehrere, teils auch noch junge und kleinere Gruppen, die ein völlig unterschiedliches Selbstverständnis haben. Das macht es für Außenstehende in der Wahrnehmung schwieriger und führt auch dazu, dass bei Bedarf alle in einen Topf geworfen werden. Für das Bild der Ultras in der Öffentlichkeit wird sich das nicht unbedingt positiv auswirken. Zugleich stehen die Gruppen intern vermehrt unter Druck, sich gegenüber bestimmten rechtsoffenen oder gewaltaffinen Tendenzen innerhalb der eigenen Szene entsprechend zu verhalten. Das wird zukünftig eine der großen Herausforderungen für sie sein.“

Die Geschichte der Ultra-Kultur

Als „Ultras“ bezeichnet man im Allgemeinen eine besondere Organisationsform von fanatischen Anhängern eines Fußballclubs. Ihr Ansinnen ist es, ihren Club immer und überall bestmöglich zu unterstützen. Ihre Wurzeln hat diese Subkultur im Italien der Fünfzigerjahre. Damals bildeten sich in Norditalien erste Gruppen, etwa in Genua und Turin. Über die Jahre entwickelte sich das Phänomen in Italien zu einer Massenbewegung, manche Gruppen sollen bis zu 10000 Mitglieder gezählt haben. Später stagnierte die Bewegung in Italien, breitete sich dafür in Europa immer weiter aus. Auch viele deutsche Gruppierungen, die sich meist die Italiener zum Vorbild nahmen, begannen sich in dieser Zeit zu etablieren. So auch die Ultras des VfB Stuttgart, als älteste Gruppe gilt das „Commando Cannstatt“, das sich 1997 gründete. Nach dem Jahrtausendwechsel etablierten sich weltweit Gruppen, etwa in Nordafrika, dem Nahen Osten, Japan oder Südkorea. Als vergleichbare Subkulturen gelten gemeinhin die „Barras Bravas“ (Argentinien) und die „Torcidas“ (Brasilien), diese entwickelten sich allerdings unabhängig von der aus Italien stammenden Ultra-Bewegung.

Um ihren Verein, die Mannschaft und die Stadt zu repräsentieren, beziehungsweise zu unterstützen, setzen Ultras auf akustische und optische Hilfsmittel. Via Megafon angestimmte und mit Trommeln untermalte Gesänge gehören ebenso zu den Standards wie Blockfahnen, Spruchbänder, Doppelhalter und Schwenkfahnen. Auch auf groß angelegte Choreografien, Konfettiregen und bengalische Feuer wird gern zurückgegriffen.

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Ultras stehen der Vereinsführung in der Regel kritischer gegenüber als andere Fans. Für sie stehen Themen wie der Erhalt der Fankultur und der Identität des Clubs oft im Konflikt zu Entscheidungen der Verantwortlichen der Vereine, die die Ultras als wirtschaftlich motiviert bewerten, beziehungsweise als „Kommerzialisierung des Sports“ kritisieren. Zu politischen Themen beziehen Ultras oft Stellung. So demonstrierte in Baden-Württemberg gegen Ende letzten Jahres eine von Ultra-Gruppen aus Freiburg und Stuttgart mitinitiierte Bewegung gegen die geplante Verschärfung des Polizeigesetzes. In Ägypten waren die Ultras von Al Ahly Kairo und Zamalek SC an der Verteidigung der Aufständischen auf dem Tahir-Platz im Rahmen des „Arabischen Frühlings“ beteiligt. Bei den Taksim-Platz-Protesten in Istanbul agierten die sonst verfeindeten Gruppen von Fenerbahce, Galatasaray und Besiktas Istanbul Seite an Seite. Im Balkan-Krieg in den Neunzigerjahren hat Zeljko Raznatovic, besser bekannt als „Arkan, der Tiger“, eine Miliz angeführt, deren Kern er aus Ultras und Hooligans von Roter Stern Belgrad rekrutierte.

In der Bildergalerie haben wir die schönsten Choreografien der VfB-Fans aus den letzten Jahren zusammengetragen. Viel Vergnügen beim Durchklicken!