In den 90er Jahren ging Stuttgart musikalisch durch die Decke: Freundeskreis, Massive Töne und andere machten die Dekade zur Goldenen Ära des Hip-Hop. Wieso wurde ausgerechnet Stuttgart zum Mekka für Rapper? Und wie hat sich das Genre seitdem verändert?

Freizeit & Unterhaltung : Ingmar Volkmann (ivo)

Stuttgart - Um den Party-Olymp zu besteigen, muss man zunächst in die Tiefe gehen. Vorbei an parkenden Autos mit Hamburger oder Münchener Kennzeichen. Eingereiht in eine ellenlange Schlange. Die Türsteher kontrollieren, dass auch keiner in Buffalos den Club betritt, der Turnschuh-Sünde der 90er: hohe Sohle, hohle Birne. Wer es doch versucht, bekommt das Mantra der Bouncer zu hören: „So kommst du hier nicht rein.“ Schlecht Gekleidete sind auch nur Menschen, also schnell nach Hause, passendere Sneaker angezogen und dasselbe Spiel von vorne, vorbei an den parkenden Autos mit Kennzeichen aus fernen Städten, noch mal Schlange stehen und dann endlich, endlich Eintritt in den 0711 Club: der sagenumwobene Hip-Hop-Ort auf dem Pragsattel.

 

Hier geht’s zur Multimedia-Reportage „Willkommen in der Mutterstadt“

In den 90er Jahren pilgern Freitag für Freitag um die 700 Gäste in die Schaltzentrale des basslastigen Stuttgarter Nachtlebens. Die Treppen hinunter in einen dunklen Keller, unglamourös, schwäbisch, die DJs legen nicht in einer überhöhten Kanzel auf, sondern hinter Gittern. Die Residents, die hier regelmäßig Platten auflegen, sind die eigentlichen Stars: Emilio, Schowi, 5ter Ton, Friction, Bams: Sie definieren den Soundtrack einer ganzen Generation.

Der Klang der Stunde: Hip-Hop auf Vinyl

Und wenn dann zwischen amerikanischen Hits von den Fugees oder Wu-Tang Clan, ein Song aus Stuttgart kommt aus der Kopfnicker-Ära, zum Beispiel „Mutterstadt“, die Stuttgart-Hymne von Massive Töne. Oder das von DJ Thomilla produzierte Brett „Reimemonster“, dann muss man sich um die Statik des Pragsattels Sorgen machen. Das Springen der 700 ist mit Sicherheit bis in den Kessel zu spüren.

Am Rotebühlplatz steht zu dieser Zeit das Radio-Barth-Gebäude. In dem ehemaligen Hifi- und Instrumentenhaus hatte das Bürgertum Küchenradios und Kassettenrekorder gekauft, dann muss das Unternehmen Insolvenz anmelden.

Anschließend übernimmt hier die Popkultur: In der Radio Bar wird gefeiert, in der Firma Bonn kann man sich für den Club einkleiden und für die Mobilität der Straße Skateboards erstehen. Im Soundshop wird der Klang der Stunde verkauft: Hip-Hop auf Vinyl. Und im 0711-Büro geben die beiden Studenten der Wirtschaftswissenschaften, Jean-Christoph „Schowi“ Ritter und Johannes „Strachi“ Strachwitz, der Szene eine Struktur. Strachwitz ist dabei Kindermädchen und Entrepreneur in einer Person. Wenn seine Künstler tagsüber nicht nur Tabak rauchen, ermahnt er sie, dass sie bekifft in den Musikvideos immer recht langsam aus der Wäsche schauen.

Die Kolchose entsteht auch als Gegenpol zu den Fantas

Stuttgart ist in den 90ern das Mekka für Rapper. Alles beginnt mit den amerikanischen Soldaten, die in der Landeshauptstadt stationiert sind. Sie bringen das Licht der Hip-Hop-Erleuchtung mit. In der StZ-Multimedia-Reportage „Willkommen in der Mutterstadt“ erinnert sich Smudo von den Fantastischen Vier: „In den Clubs der GIs wurde damals live gerappt, das hat uns fasziniert.“ Smudo und seine Mitstreiter übersetzen diesen US-Hip-Hop in ihre Lebensrealität. Für Straßen-Rap sind die Bordsteine in Stuttgart zu sauber, die Fantas liefern inhaltlichen Reihenhaus-Konsens statt Bronx-Lyrik vor brennenden Mülltonnen. Das Ergebnis: deutscher Sprechgesang und 1992 der erste große Hit aus Stuttgart, die Single „Die da?!“

Des einen Freud, des anderen Leid: Die nächste Hip-Hop-Generation steht bereits in den Startlöchern. Den jungen Wilden ist der Sound der Fantas zu uncool. So entsteht als Gegenpol die Kolchose, ein Zusammenschluss aus Bands wie Freundeskreis, Massive Töne und anderen Rappern, DJs, Sprühern und Breakdancern. „Mit dem Pop-Sound der Fantas konnten wir nichts anfangen, wir wollten der Welt unsere Definition von Hip-Hop aus Stuttgart zeigen“, sagt Max Herre von Freundeskreis.

Damals gibt es Musik noch nicht auf Knopfdruck

Hip-Hop ist im Gegensatz zu heute noch nicht allgegenwärtig, es gibt keine Musik auf Knopfdruck im Internet, deshalb haben die Resident-DJs auch eine so wichtige Funktion: Sie bergen musikalische Schätze im Soundshop, im Imports, im Vinyl West und wie die Platten-Läden in Stuttgart alle heißen. Manchmal muss man wochenlang auf eine rare Pressung aus den USA warten. Das Publikum saugt die neuen Hits förmlich auf. Stuttgarts Kolchose-Mitglieder können neue Klänge im Club testen und je nach Reaktion dann in die Produktion ihrer eigenen Platten einfließen lassen.

All das führt zu dem, was heute als goldene Ära des Hip-Hops bekannt ist. Die Künstler der Kolchose stacheln sich gegenseitig an. Sportive Manöver: jede Veröffentlichung soll die der anderen übertreffen. „Was in Stuttgart ab 1996 los war, hat uns in Hamburg fassungslos gemacht“, sagt Jan Delay von der Band Beginner. „Max Herre war uns sprachlich meilenweit voraus, Massive Töne hatten unglaubliche Produktionen, und so etwas wie den 0711 Club gab es in Hamburg nicht. Deshalb mussten wir ja so oft nach Stuttgart kommen.“

Der musikalische kalte Krieg geht zu Ende

In Stuttgart geht derweil der musikalische kalte Krieg zu Ende. Aus den konkurrierenden Lagern der Fantas auf der einen und der Kolchose auf der anderen Seite wird ein Team. Die Fantastischen Vier nehmen Freundeskreis auf ihrem Label Four Music unter Vertrag. 1999 geht als das Jahr in die Geschichte ein, in dem sich Hip-Hop aus Stuttgart auf seinem Höhepunkt befindet: Alben von den Fantastischen Vier, Massive Töne, Freundeskreis und Afrob stehen in der selben Woche an der Spitze der deutschen Charts. Die von Four Artists und dem 0711 Büro veranstalteten Hip-Hop-Open steigen zum größten eintägigen Genre-Festival in Deutschland auf.

Auf die goldene Ära folgen aus Stuttgarter Sicht eher dürre Jahre: Hip-Hop-Protagonisten wie Max Herre wandern nach Berlin ab. Die Bundeshauptstadt dominiert das Genre auf einmal mit härteren Tönen. Der 0711 Club ist seit 2002 Geschichte, an seiner Stelle steht – wie könnte es in Stuttgart anders sein – ein Autohaus. Auch andere Wegmarken wie das Radio-Barth-Gebäude sind längst Vergangenheit.

Der Sound der Mutterstadt ist heute vielfältiger denn je

Dass heute keiner weinend in Früher-war-alles-besser-Chöre einstimmen muss, liegt daran, dass Hip-Hop längst wieder Teil der DNA dieser Stadt ist. Vielleicht ist der Sound der Mutterstadt 2018 sogar vielfältiger denn je. Hip-Hop läuft überall, Clubs wie die Schräglage und das Freund und Kupferstecher führen das Erbe des 0711 Clubs fort. In Bars wie dem Bergamo legen immer noch Helden von damals wie Emilio, 5ter Ton oder Friction auf, und mit der Spielstätte im Wizemann verfügt Stuttgart wieder über eine überregional renommierte Konzert-Location.

Was aber vielleicht noch viel wichtiger ist: Die Erben der Kolchose produzieren so unterschiedlich und facettenreich wie in keiner anderen deutschen Stadt. Cro sticht als Komponist heraus. Die Band Die Orsons besteht aus vier unfassbar talentierten Mitgliedern, die man in keine Schublade sperren kann. Produzenten wie die Jugglerz, DJ Jopez oder Dexter schreiben Hits.

Auf einmal gibt es in Stuttgart auch harte Klänge zu hören, die gut sind

Der Spirit von Stuttgart reicht bis nach Bietigheim-Bissingen und macht das harte Los etwas erträglicher, die Stadt von Pur zu sein. Der Song „Was du Liebe nennst“ von Rapper Bausa, im September 2017 veröffentlicht, ist der kommerziell erfolgreichste deutsche Hip-Hop-Song aller Zeiten, dazu kommt mit Rin der beliebteste Cloud-Rapper der Republik ebenfalls aus der Rap-City an der Enz.

Und, was es so in Stuttgart früher nie gegeben hat: Zum Soundtrack der Stadt gehören auf einmal auch härtere Klänge, die glaubwürdig sind. Der im Stadtteil Rot aufgewachsene Rapper Dardan und Nimo, der seine Kindheit in Leonberg verbracht hat, sind mit ihrem Straßen-Rap mit Migrationshintergrund Klick-Millionäre bei YouTube und haben dank ihres außerordentlichen Talents längst Verträge bei angesehenen Plattenfirmen.

Der Traum vom urbanen Zentrum

Was heute außerdem anders ist? Die Breakdancerin Nadja „Naccia“ Nonnenmann von den Skill Sisters beklagt, dass der Zusammenhalt in der Szene früher besser gewesen sei. Außerdem fehle dem Genre das, was in Stuttgart eben Mangelware ist: Raum, um sich künstlerisch zu entfalten. Deshalb haben sich Naccia und andere im Verein Underground Soul Cypher zusammengeschlossen. Ihr Traum: ein Zentrum der urbanen Kunst und Kultur. Damit die aktuelle Generation die Stuttgarter Hip-Hop-Geschichte weiterschreiben kann.