Chemie ist doch gar nicht so trocken. Irgendwas müssen die Lehrer am Fehling-Lab jedenfalls richtig machen, sonst hätten dort in 15 Jahren nicht mehr als 50 000 Schüler vorbeigeschaut.

Vaihingen - Der reiche Graf ist vornüber gekippt. Sein Kopf liegt auf dem Frühstückstisch, in der Tasse schwappt noch der Kaffee, auf dem Teller ist das Brötchen aufgeschnitten. Der alte Mann ist tot. Annette Capudi zeigt das Foto des Tatorts, die Polizei geht von Mord aus. Und die Kinder, die einen Halbkreis um sie gebildet haben, sollen den Fall aufklären. „Er zeigt Zeichen eines allergischen Schocks“, sagt Capudi, „sein Hals und seine Hände sind angeschwollen.“

 

Die Kinder, allesamt in weiße Kittel gehüllt und mit Schutzbrille in der Tasche, hängen an ihren Lippen. Kein Gezanke, kein Umhergetolle, wie man das sonst so von Fünftklässlern auf Exkursion erwarten könnte. Stattdessen geben sich die Jungs und Mädchen konzentriert. Denn die Reagenzgläser stehen für die Nachwuchs-Forensiker schon bereit.

Die Schüler sollen für Chemie begeistert werden

Es ist einer dieser ganz normalen Tage im Vaihinger Fehling-Lab. Heute sind es Kinder des Eduard-Spranger-Gymnasiums aus Bernhausen, die zu Gast auf dem Campus der Universität Stuttgart sind. Aus dem siebten Stock des Naturwissenschaftlichen Zentrums, dem weithin sichtbaren größten Gebäude am Pfaffenwaldring, hätte die 5e eigentlich einen prächtigen Ausblick, zumal das Wetter auch mitspielt.

In dem Schülerlabor sollen ihre Gedanken aber nicht in die Ferne abschweifen. Die kleinen Besucher sollen für Chemie begeistert werden. Was im Schulalltag oft nicht klappt, wird am Fehling-Lab tagtäglich umgesetzt. Kaum einer, der sich der Faszination des Experimentierens entziehen kann. Es hat aber auch was für sich, Rosinen im Wasser tanzen zu lassen oder einen Feuerlöscher zu basteln.

Die Mitarbeiter des Fehling-Labs haben sich dafür ein Korsett ausgedacht, dass jedes Mal aufs Neue verfängt. Heute werden die Schüler in drei Gruppen aufgeteilt und besuchen nacheinander das Säure-Labor, das Kohlenstoffdioxid-Labor und das Forensik-Labor. Andere Kinder aus anderen Klassen experimentieren an anderen Tagen mit Strom oder züchten Kristalle. Auch ganz interessant: Chemie mit der Mikrowelle.

Die Experten bereiten ein Korsett an Experimenten vor

Als Hermann Fehling, der Namenspatron der Vaihinger Einrichtung, geboren wurde, wagten die Menschen noch nicht einmal von einem Mikrowellenherd zu träumen. Fehling erblickte 1811 das Licht der Welt. Der Chemiker unterrichtete an der Technischen Hochschule Stuttgart. Zeitgenossen meinten, er habe dafür ein besonderes Händchen gehabt. Nebenbei forschte er viel und entdeckte die nach ihm benannte Fehling-Probe zum Nachweis von Zucker.

Eva Schopf ist Lehrerin aus Nürtingen und am Fehling-Lab eine derjenigen, die die Kinder auf die Seite der Stoffe ziehen will. Heute sitzt sie aber an einem Tisch, vor sich ein Tablett mit Dosen, Schalen, Löffeln und allerlei Pülverchen. Neben ihr sitzen Beate Machanek, die Klassenlehrerin der 5e, und Sandra Treiber, die Biologie unterrichtet. Schopf geht mit den beiden Kolleginen aus Bernhausen die Experimente Punkt für Punkt durch, damit diese das Wissen auch künftig am Eduard-Spranger-Gymnasium anwenden können.

Da ist zum Beispiel der Reagenzglasständer. Den gießen sich die Kinder nämlich selbst, aus Gips und in einer Gummiform. Das Teil sieht aus wie ein Block Butter mit zwei Löchern, in die die Reagenzgläser geschoben werden. „Das macht die Kinder dann auch ganz stolz, wenn sie mit dem eigenen Halter experimentieren können“, sagt Schopf. Und überdies lassen die sich auch noch prima bemalen.

Das Fehling-Lab feiert 2016 sein 15-jähriges Bestehen

Biologielehrerin Treiber ist begeistert. „Das ist super, sonst würde ich mit meinen Schülern nicht jedes Jahr wieder kommen“, sagt sie. Schon allein die weißen Kittel und die Schutzbrillen kommen richtig gut an. „Und es ist ja auch ein Unterschied, ob das einer unserer Lehrer oder jemand anderes erklärt.“

Der Mörder wusste wohl, dass der Graf eine Aspirin-Allergie hatte. Zumindest vermutet das die Polizei. Also gilt es, alles auf dem Frühstückstisch nach Spuren des Medikaments zu untersuchen. Zur Auswahl stehen ein Salzstreuer, eine Zuckerdose und der Mehlstaub auf dem Brötchen. Die Kinder machen sich als erstes über das Salz her, vergleichen mit einer Lupe eine Probe vom Tatort mit einer aus dem Supermarkt. Das Ergebnis: Beide Male Kristalle, weit und breit kein Pulver zu sehen. Das Salz war es nicht.

Capudi, die an diesem Tag ein Drittel der 5e von Labortisch zu Labortisch führt, ist seit Tag eins dabei. Der reiche Graf, der Vornübergekippte, ist in Wahrheit ihr Vater. Weder ist er Blaublüter, noch ist er tot. Aber für das Foto hat er die Leiche gespielt. „Wir haben 2001 begonnen“, sagt Capudi, „am Anfang noch mit unseren eigenen Kindern als Versuchskaninchen.“ Deutschlandweit war das Vaihinger erst das zweite Labor überhaupt, das Kinder für Chemie begeistern wollte. Insgesamt gestalten sieben Lehrer den Unterricht, dazu kommen zwei Ehrenamtler „und immer so 15 Studenten“, sagt die chemisch-technische Assistentin.

Mehr als 50 000 Kinder haben das Labor schon besucht

Der Andrang, meint sie, sei so groß, dass die Warteliste bis zu zehn Jahre betrage. Dass das nicht nur so daher gesagt ist, verdeutlicht ein Blick auf die Zahlen. Allein 2015 schauten 256 Klassen mit insgesamt 5309 Schülern in dem Vaihinger Labor vorbei. Seit 2001 waren es sogar 2525 Klassen. 51 286 Kinder haben in dieser Zeit Zitronensaft in Rotkohlbrühe geträufelt oder den Deckel von Brausetablettenröhrchen durch den Raum geschossen.

Der Gärtner war’s, wer denn auch sonst. Der vermeintliche Mehlstaub hat sich nicht lila verfärbt, als die Kinder Iod drauf geträufelt haben. Also war auch keine Stärke in der Probe. Ein Schugger Eisen(III)-chlorid-Lösung darauf, dann im Reagenzglas über dem Brenner geschwenkt, und schon verdunkelt sich die Brühe. „Das ist der Nachweis für Acetylsalicylsäure“, sagt Capudi. Die Nachwuchs-Forensiker haben den Mann mit dem grünen Daumen überführt. Seine Fingerabdrücke waren überall auf dem Geschirr.