Die EU-Grundrechte-Charta ist den Herausforderungen unserer Zeit nicht mehr gewachsen: Ferdinand von Schirach will sie erweitern – mit Beteiligung der Bürger und Bürgerinnen.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Ferdinand von Schirach ist so etwas wie die oberste Rechtsinstanz der deutschen Literatur. Mit seinen Theaterstücken hat er das mediale Plebiszit auf dem Feld des ästhetischen Urteils etabliert, seine True-Crime-Erzählungen haben ein Millionen-Publikum mit der Kasuistik verzwickter Rechtsfälle bekannt gemacht. Auch sein neues Projekt setzt auf die Beteiligung des Publikums, und zwar in Gestalt der Bürger und Bürgerinnen der Europäischen Union. Denn sein eben erschienenes Manifest „Jeder Mensch“ will nichts geringeres, als der Grundrechte-Charta der EU ein zeitgemäßes Update verpassen.

 

Wir stünden vor neuen Herausforderungen, die die Mütter und Väter der alten Verfassungen in Europa noch nicht gekannt hätten, schreibt der ausgebildete Jurist im Vorwort des schmalen Büchleins. Das Internet und die „sogenannten Sozialen Medien“, die Globalisierung, die Macht der Algorithmen und der Klimawandel erforderten eine Ergänzung der Charta. Sechs zusätzliche Artikel sieht sein Vorstoß vor.

Recht auf Wahrheit

Sie betreffen das Recht, in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben, digitale Selbstbestimmung, Fragen der künstlichen Intelligenz, aber auch den Anspruch, nur solche Waren und Dienstleistungen angeboten zu bekommen, die unter Wahrung universeller Menschenrechte hergestellt wurden. Ins dunkle Herz des postfaktischen Zeitalters zielt der vierte Artikel: „Jeder Mensch hat das Recht, dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen.“ Gegen die Verletzung der Charta soll vor den Europäischen Gerichten geklagt werden können.

Auf der Webseite www.jeder-mensch.eu, die demnächst freigeschaltet werden soll, können alle Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union die Initiative unterstützen und den Impuls für einen Verfassungskonvent geben. Die Corona-Krise habe gezeigt, dass in einer Demokratie alles möglich werde, wenn Gefahr drohe: „Diese Kraft brauchen wir jetzt.“ Zahlreiche Intellektuelle, Rechtswissenschaftler, Künstler und Prominente unterstützen von Schirachs Unternehmung, darunter die SPD-Politikerin Katarina Barley und der Satiriker Jan Böhmermann.

Ferdinand von Schirach: Jeder Mensch. Luchterhand Literaturverlag. 32 Seiten, 5 Euro.