Nach dem Erfolg seines großen Eta-Epos „Patria“ kehrt Fernando Aramburo ins Baskenland zurück und zeigt, aus welchem Stoff große Romane gemacht sind.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Skizzen besitzen ihre eigene Form der Lebendigkeit. Fernando Aramburos neuer Roman „Langsame Jahre“ ist ein vorläufiger Aggregatzustand des explosiven Stoffs, den sein großes Eta-Epos „Patria“ auf grandiose Weise in die Luft gejagt hat, um aus den Einzelteilen das Bild einer in sich zerfallenen Gesellschaft zusammenzusetzen. Das neue Werk führt zurück in die bleierne Zeit der spanischen Franco-Diktatur, die in ihrer sklerotischen Spätphase nichts an Grausamkeit eingebüßt hat. Wie in „Patria“ begegnet man orientierungslosen jungen Leuten, die der Dunstglocke von Bigotterie, Einschüchterung und Brutalität zu entkommen suchen, in sexuelle Abenteuer die einen, in den Heroismus des Freiheitskampfs der baskischen Separatistenorganisation Eta die anderen.

 

Nahm „Patria“ seinen Ausgangspunkt von der Zerstörung, kann man dem neuen Roman beim Werden zuschauen. Er besteht aus eine Folge von Erinnerungsprotokollen an eine Kindheit im baskischen San Sebastian. Ein alter Mann überlässt diese einem gewissen Herrn Aramburo zur weiteren Bearbeitung, der dann in eingeschalteten Notaten darüber nachdenkt, wie daraus eine Geschichte werden könnte. Das Ergebnis des künstlichen Arrangements ist ein verblüffend lebensnaher Effekt, ein Rohzustand der Verhältnisse, nicht nur hinsichtlich des literarischen Verarbeitungsgrades, sondern auch im Blick auf das, was es darin zu erleiden gibt.

Autoerotische Wonnen

Denn hier geht es ziemlich rau zu. Weil sein Vater sich aus dem Staub gemacht hat, wuchs der sich erinnernde Gewährsmann im Haus seiner Tante in der baskischen Hauptstadt San Sebastian auf, fern des Dorfes seiner Kindheit, nahe den stinkenden Füßen seines allabendlich autoerotischen Wonnen frönenden Cousins. Die anfängliche animose Zwangsgemeinschaft wandelt sich mit der Zeit in ein Vertrauensverhältnis. Und je heimischer der Junge in seiner Gastfamilie wird, desto tiefere Einblicke gewinnt er in das, was sich rings um ihn abspielt: Was seine nicht besonders hübsche, mollige Cousine mit ihren Freunden so treibt, Dinge, die über kurz oder lang ein weiteres äußerst ungewolltes Werden mit sich bringen.

Doch auch die Tante hat ihre Geheimnisse. Und es werden im Lauf dieses Romans immer mehr und gravierendere. Abermals begegnet man einem dubiosen Geistlichen, der junge Leute für den Glauben an die baskische Erlösung fanatisiert und in eine Art separatistischen Dschihad treibt. Der impulsive, etwas einfältige Cousin ist ein willfähriges Opfer, wird zum glühenden Kämpfer einer Sache, deren Sprache er nicht einmal versteht. Spiegelbildlich dazu verhält sich die Kunst Herrn Aramburus, den Leser für die Angelegenheiten von Leuten einzunehmen, die frei von allen Gefälligkeiten sind, mit denen sich literarische Figuren anzuschmiegen pflegen. Und auch wenn man nicht genau sagen kann, ob man nun gerade sehr komischen oder sehr tragischen Wendungen folgt, vergehen diese langsamen Jahre wie im Flug.