Fernando Aramburus fesselnder Roman „Patria“ erzählt die Leidensgeschichte, die der blutige Freiheitskampf der baskischen Separatistenorganisation Eta geschrieben hat, und gibt den Opfern auf allen Seiten eine Stimme.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Als wäre eine Bombe explodiert und hätte die Biografien dieser Menschen, ihre Hoffnungen, ihre Aussichten, Beziehungen und Leidenschaften in tausend Stücke gerissen. Überall Bruchstücke, der Riss geht durch Familien, trennt älteste Freunde und Freundinnen, vergiftet die Gefühle und lässt, was von den Herzen übrig blieb, versteinern.

 

Der im spanischen Baskenland geborene, seit zwanzig Jahren in Hannover lebende Autor Fernando Aramburu erzählt die Leidensgeschichte seines zwischen den Spätfolgen des Franco-Regimes und dem blutigen Freiheitsterror der Eta zerriebenen Landes als Abfolge von Bruchstücken eines zerstörten Lebens. Alles fliegt durcheinander, auch die Zeit, Frühes folgt auf Spätes, was davor war, kommt noch und umgekehrt, doch all diese Trümmer eines zerstörten Lebens gravitieren um ein brutales Attentat, nach dem nichts mehr so war wie zuvor.

Aramburus Roman „Patria“ beherrschte die spanischen Bestsellerlisten und wurde in Deutschland marketingversiert schon als würdiger Nachfolger des Ferrante’schen Lese-Lust-Komplexes ausgerufen. Nach der neapolitanischen nun die baskische Familiensaga. Wahr daran ist, dass dieser knapp achthundert Seiten dicke Wälzer, dem großen italienischen Zyklus durchaus ähnlich, einen historischen Raum in der Spannung objektiver Gestaltungsmächte und subjektiver Erfahrungen vermisst. Gerade deshalb aber sind beide Romane gleichzeitig so völlig unvergleichbar wie die jeweiligen Realitäten, die sie dem Leser zugänglich machen.

Abenteuerlust und Gewalt

Die Gestaltungsmacht, die in „Patria“ das Heft des Handelns an sich gerissen hat, ist die baskische Separatistenorganisation Eta. In einer Szene zu Beginn des Romans erscheinen drei ihrer Mitglieder auf dem Bildschirm, „drei Kapuzen unter Baskenmützen, nebeneinander an einem Tisch, Ku-Klux-Klan-Ästhetik“. Sie verkünden das Ende des bewaffneten Kampfes, mit dem die Organisation ein von Spanien unabhängiges, vereintes sozialistisches Baskenland herbeibomben und -schießen wollte. Bis zu diesem Zeitpunkt im Oktober 2011 haben ihre fünfzig Jahre währenden, ursprünglich gegen die Repressionen der Franco-Diktatur gerichteten Aktivitäten weit über achthundert Menschen das Leben gekostet.

Was hinter solchen trockenen Zahlen steckt, welche ideologische Verblendung, welche achtbaren Absichten, welches Leid, welches ungeheure Ausmaß der Zerstörung, bleibt der geschichtlichen Vogelperspektive verborgen. Deshalb richtet Aramburu seinen Blick nicht auf Ganzheiten, sondern auf Fragmente, nicht auf Überzeugungen, sondern auf Verunsicherungen, nicht auf Urteile, sondern auf Versuche der Verständigung.

Eines der Eta-Opfer ist Txato, ein Fuhrunternehmer, der nicht wenigen in einem kleinen Dorf nahe San Sebastian Arbeit gibt, ein gutmütiger älterer Herr, vernarrt in seine Familie und sein Rennrad. Irgendwann gerät er ins Visier der Eta, weil er sich weigert, die immer weiter steigenden Forderungen zur Unterstützung des revolutionären Prozesses im Baskenland zu begleichen.

Auf der anderen Seite steht Joxe Mari, der älteste Sohn von Txatos bestem Freund. Aus Abenteuerlust, Gewaltbereitschaft und einer gehörigen Portion Dämlichkeit lässt er sich von dem fein gespannten Netz der Eta-Terrorindustrie einfangen. Steht er hinter den Schmierereien, die irgendwann an den Hauswänden zu lesen sind, die Txato als faschistischen Büttel verunglimpfen und seinen Tod fordern? Jedenfalls solidarisiert sich seine herrische Mutter Miren bedingungslos mit ihm und seinen nationalistischen Phrasen, was das brüske Ende der seit den Jugendtagen währenden Freundschaft zu Txatos Frau Bitori bedeutet.

Absolutes gehör für Zwischentöne

Das ist die Konstellation, aus der für beide Familien unendlicher Schmerz, Hass und Zerrüttung hervorgehen. Wäre Txato nicht ermordet worden, hätte dann auch die Beziehung seines Sohnes zu der schönen Aranzázu überlebt? Oder wäre das Liebesleben seiner Schwester Nerea ganz anders verlaufen? Wäre ohne den tödlichen Aktionsmechanismus der Eta aus Joxe Mari ein berühmter Handballspieler geworden? Aus seinem Vater kein trauriger Alkoholiker? Hätte dann der jahrelange Bruch zwischen der separatistischen Mutter-Furie Miren und ihrer Tochter Arantxa vermieden werden können? Möglicherweise sogar deren Schlaganfall? Und wie hätte Bitoris Leben ausgesehen, wenn sie es nicht der Klärung der Todesumstände ihres Mannes hätte verschreiben müssen?

Mit einem absoluten Gehör für die feinen Zwischentöne und weitreichenden Resonanzen in den jeweiligen Lebenswirklichkeiten zeichnet Aramburu die Antworten auf diese Fragen auf. Jeder Splitter hat seine eigene Stimme, und was er zu erkennen gibt, schimmert im subjektiven Zwielicht von innerem Monolog, Ich-Perspektive und einer fluiden Erzählhaltung, als würde der baskische Dauerregen alle Gewissheiten hinfortschwemmen. Genau in dieser relativierenden Kraft liegen die Stärken dieses Romans, und es sind die Stärken, die Literatur überhaupt gegenüber den monologischen Erzählungen von Politik und Gesellschaft ausspielen kann.

Fernando Aramburu verteidigt die Dichte des alltäglichen Treibens, Kleinigkeiten, Gewohnheiten, Calamares in eigener Tinte, Kaninchenzucht und Sonntagssport gegen die ordnende Gewalt von Ideen – und sei es die hochfahrende Liebe zum eigenen Volk. Seine plastischen, vitalen Figuren führen den Terror der Begriffe ad absurdum, der ihr Leiden bedingt. Und so genau Aramburu die sehr speziellen baskischen Verhältnisse fasst, sollte man dennoch nicht aus den Augen verlieren, dass man sich vor schalen Allgemeinheiten nirgends sicher wähnen kann, denn Patria ist überall.

Fernando Aramburu: Patria. Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Willi Zurbrüggen. Rowohlt Verlag. 768 Seiten, 25 Euro.