Zahlreiche Performances mit politischen Themen haben das Stuttgarter Eclat-Festival bis zum Samstag geprägt. Überzeugenderes gab es allerdings in den Konzerten.

Stuttgart - Ich spiele einen Akkord, sagt Johannes Kreidler – so lange Gott nicht erscheint. Der Komponist und Konzeptkünstler hat 2012 im Eröffnungskonzert der Donaueschinger Musiktagefür einen Eklat gesorgt, indem er zwei Instrumente zusammenband und dann zertrampelte, um so gegen die Klangkörper-Fusion des Südwestrundfunks zu protestieren. Jetzt präsentiert der 37-Jährige auf dem Festival Eclat unter weit weniger wilden Umständen seine Performance „Infinissage“, ein nächtliches Ereignis zwischen Musikkabarett („Johann Sebastian Bach kann nur verstehen, wer selbst 18 Kinder hat“), intelligent-überdrehter Theoriediskussion (etwa über die stilistische Ausdifferenzierung von Metalmusic) und Happening (mit zahlreichen schrill zusammengeschnittenen Video- und Sound-Schnipseln). Hinzu kommen etliche Querverweise auf eigene, selbstredend historische Leistungen wie etwa die Uraufführung seines „Minusboleros“, bei dem er aus Ravels Orchester-Hit schlicht die Melodiestimme herausschnitt. Die Uraufführung des Stücks beim Eclat-Festival 2015 war ein Eklat – wo Kreidler Hand angelegt habe, empörten sich viele, sei alles Mögliche entstanden, nur eben kein eigenes Werk.

 

Einen Eklat gab es beim diesjährigen Eclat-Festival nicht. Auch über „Infinissage“ hat man sich jetzt eher amüsiert denn aufgeregt – vor allem im Rückblick, denn bei weiteren Performances und performativen Werken am Freitag und Samstag bot die so genannte Konzeptkunst deutlich mehr Konzept als Kunst. Dabei hätte man die Aussage des zweiten Preisträgers beim Kompositionspreis der Stadt Stuttgart, Malte Giesen, „Wenn ich konkret politisch etwas bewegen wollte, würde ich nicht Neue Musik machen“, in diesem beim Eclat-Festival ja profilbildenden Grenzbereich der Künste locker aushebeln können. Das ist aber schon Laurent Durupts Musiktheater „Anthroposcène“ nicht geglückt: Das Stück beleuchtet mit Videos, Aktion, Live-Musik und Elektronik das Verhältnis von Mensch und Umwelt am Beispiel jener EU-Parlamentssitzung 2017, bei der die Präsidentin der pazifischen Marshall-Inseln die apokalyptischen Auswirkungen des Klimawandels schildert – und scheitert spätestens bei der lautstarken Zerstörung des Papp-Konferenztisches in einem Häcksler am Dilettantismus der Darsteller ebenso wie an seiner zerfasernden formalen Disposition.

Diskrepanz zwischen Gewolltem und Gezeigtem

Bei den Alltagsbeobachtungen in „Daily Transformations“ von Clemens Gadenstätter (Musik, Konzept), Lisa Spalt (Text) und Anna Henckel-Donnersmarck (Film) stellen sich zwar gelegentlich die beabsichtigen ironischen Reibungen zwischen den Ebenen her, aber das bewusst enthierarchisierte Nebeneinander der Künste zeitigt eine auf Dauer lähmende Addition von Beliebigkeiten. Die Neuen Vocalsolisten singen, das Ensemble asamisimasa spielt, man sieht Videos aus einem Park und von einer Achterbahn, das Ganze fängt irgendwie an, und als es nach siebzig Minuten irgendwie aufhört, weiß man immer noch nicht, was hier eigentlich erzählt werden soll.

Dass die Werkbeschreibungen und Interviews zu den genannten Stücken ausufernd lang sind, gehört dazu, und die Diskrepanz zwischen dem Gewollten und dem Gezeigten ist nirgends auffälliger als bei Raphael Sbrzesnys „Principal Boy“, das den Untertitel „musiktheatrale Installation“ trägt. Da soll es um den Terror in Paris 2015 gehen, um Schnittstellen zwischen Nihilismus und Heldentum, um den Körper als Skulptur und als ästhetischen Apparat – zu erleben indes sind vereinzelte Bewegungen von fünf Performern, eine oft sehr laute Tonspur aus Lautsprechern, die durch das Live-Spiel auf einer Art Klang-Korsetten ergänzt werden. Außerdem werden Duschgels auf den Boden geleert, und es wird so viel herbes Deo im Raum versprüht, dass es einem schwummrig werden kann vor lauter olfaktorischer Männlichkeitsbehauptung.

Platons Höhlengleichnis im Kühlschrank

Spielerischer ist immerhin die Performance „Sous vide“ des live an den Reglern operierenden Dmitri Kourliandski und der Performerin Aliénor Dauchez. Die hockt sich, nachdem sie Bierflaschen aus einen Getränkekühlschrank geräumt und im beglückten Publikum verteilt hat, in den zeitweilig von Wasserkocherdampf vernebelten Kasten, kleidet sich mehrfach um, liest, streckt die Beine zur Kerze empor und trinkt, nachdem sie am Ende dem Käfig entstiegen ist, noch ein letztes Bierchen mit dem Komponisten. Das Ganze ist, obwohl es auch ein Reflex auf Platons Höhlengleichnis sein soll, zum Glück nicht ganz bierernst gemeint.

Unter den Performances gab es schließlich auch noch eine kleine, zarte. Die Cellistin Séverine Ballon wechselt in „Distanz“ von Marianthi Papalexandri-Alexandri die Art und die Orte der Tonerzeugung: Mal streicht sie ihr eigenes Instrument, mal auf Schnüre, die den Steg des Cellos mit Klangmembranen im Raum verbinden; mal verbindet sie ihren Bogen mit Zugmaschinen, die ihr den Auf- und Abstrich abnehmen. Das Stück berührt viele Themen, die im Programmheft nur angedeutet werden; zwischen den Aktionen ist viel poetische Stille, und zu hören ist: Klang, Geräusch, Musik. Darüber freut man sich auch deshalb, weil diese in den Performances sonst nur eine ziemlich untergeordnete Rolle spielte.

In den reinen Konzertstücken dominiert die Retrospektive

Das ist ein bisschen schade für ein Neue-Musik-Festival, wurde aber jenseits des Performativen zumindest von einigen Werken wettgemacht. Dabei legten die neuen Konzertstücke in diesem Jahr (wohl eher zufällig) einen Schwerpunkt auf den Umgang mit der musikalischen Vergangenheit – formal, ästhetisch, stilistisch, ja gelegentlich auch durch direkte Zitate. Am traditionellsten wirkte dabei ein Stück jener Musikrichtung, zu deren ausdrücklichem Programm die Entfernung von außermusikalischen Einflüssen gehört: Tristan Murails „Portulan“ zählt zur so genannten Spektralmusik, die auf der Basis von Obertonspektren stark klangfarblich konzipiert wird; das vom Ensemble L’Itinéraire gespielte achtteilige Werk bietet in unterschiedlicher Instrumentalbesetzung so etwas wie ein musikalisches Pendant zur Neuen Leipziger Schule – mit viel Farbe, großen Gesten und einer durchaus gegenständlichen, direkten Bildhaftigkeit. Hinzu kommt viel gutes Handwerk und ein Bekenntnis zu ungestörter Schönheit, für das der Komponist auch Buhrufe aus dem Publikum in Kauf nehmen musste.

Zu den besonderen Werken unter den vielen, die bei Eclat zur Uraufführung gelangten, zählte Rebecca Saunders‘ „Unbreathed“ für Streichquartett (Quatuor Diotima), das man als Studie über das Paradoxon einer in sich stabilen Instabilität hören kann: In kleinem Tonraum werden Töne und Materialzellen umkreist und gleichsam in unterschiedlichen Aggregatzuständen präsentiert, da wird getrillert und auf- wie abwärts geglitten; das Stück ist sehr präzise gearbeitet, seine Idee ist sofort da und teilt sich mit.

Klaus Mahnkopfs „voiced void“ krankt an übermäßiger Komplexität

Mit zwei sehr schönen Werken von Johannes Boris Borowski („As if“, gespickt mit virtuos verdeckten Anspielungen auf bekanntes Material bis hin zu Gershwins berühmtem Klarinetten-Glissando) und Sara Glojnaric („Sugarcoating #2“, ein subtiles Stück über das Spannungsverhältnis zwischen live Gespieltem und elektronisch Reproduziertem) stellte sich das glänzend aufeinander eingespielte Trio Catch vor. Reizvolle Interaktionen und Konfrontationen zwischen Bläsern und Sängern fächerten das Calefax Reed Quintet und die Neuen Vocalsolisten vor allem in Steffen Krebbers „Mediated mixes“ vor – und bei Fabio Nieder, der in „Eine alpenländische Volksweise“ auf melancholisch-bedeckte Weise eine vergessene Musik aus windisch Kärnten gleichzeitig wiederbelebt und zu Grabe trägt.

Ein bisschen traurig stimmte schließlich auch die Uraufführung von Klaus-Steffen Mahnkopfs ebenso monumentalem wie hoch komplexem Chorwerk „voiced void“. Die gesungenen althebräischen Texte, die man gerne etwas im Programmheft gelesen hätte, behandeln den Messianismus der jüdischen Kultur; die Überfülle an Informationen auch in der Musik hat Rupert Huber am Pult des immer wieder solistisch und in wechselnde Aktionsgruppen aufgegliederten SWR-Vokalensembles immerhin so kanalisiert, dass sich zwischen Flüstern und ätherischen Sopranhöhen Momente großer Klangsinnlichkeit einstellen. Insgesamt jedoch ist das Stück, an dem der Chor ganze vier Wochen (!) geprobt hat, ein riesiges Luxusproblem: hochinteressant in der Anlage, aber, weil sich das Ergebnis nicht wirklich durchdringen lässt, in der Wirkung diffus und amorph.

Beifall gab’s dennoch, vor allem für Sänger und Dirigent. Im Gegensatz zur Performance Johannes Kreidlers. Der nämlich hatte sich Applaus verbeten – und als sich einer im Publikum klatschend das Verbot verbat, war das wie ein Buhruf. Nachdem Kreidler dies auf Facebook gepostet hatte, kommentierte eine Komponistin „Ich dachte, die Leute klatschen immer, egal welchen Scheiß sie hören.“ Verrückte neue Musikwelt!