Ein Massaker, das sich ins kollektive Gedächnis Mexikos eingebrannt hat, steht im Mittelpunkt von „Roma“. Alfonso Cuaróns Filmdrama blickt zurück in seine Kindheit und die Geschichte Mexikos.

Stuttgart - Alfonso Cuaróns autobiografisch geprägter Schwarz-Weiß-Film hat schon etliche Preise abgeräumt: Bei den Filmfestspielen von Venedig gab es den Goldenen Löwen, der New Yorker Filmkritikerverband Critics Circle kürte „Roma“ ebenfalls zum besten Film.

 

Herr Cuarón, Sie erzählen in „Roma“ letztlich von Ihrer Kindheit, in der Protagonistin Cleo setzen Sie Ihrem früheren Kindermädchen ein Denkmal. Warum war es Ihnen so wichtig, diese Geschichte als Film zu erzählen?

Für mich war dieses Projekt einfach eine dieser Sachen, die man machen muss. Ich hatte den Gedanken daran lange mit mir herumgetragen, irgendwann war die Zeit reif. Ob es daran liegt, dass ich mich langsam mit dem Thema „alt werden“ beschäftigen muss? Keine Ahnung, aber auf jeden Fall spürte ich das Bedürfnis, mich mit meinem Leben auseinanderzusetzen und die Vergangenheit aufzuarbeiten. Und das nicht nur im Hinblick auf meine Familiengeschichte, sondern auch, was mein Verhältnis zu meinem Land und der mexikanischen Gesellschaft angeht.

War es Nostalgie, die Sie antrieb?

Nein, dann hätte ich einen anderen Film gedreht. Ein nostalgischer Film wäre komplett subjektiv, dafür muss man zurück in die Vergangenheit gehen und auf Augenhöhe mit den emotionalen Erfahrungen der Figuren bleiben. Das ist eine, ich will mal sagen, typische Hollywood-Herangehensweise; da denke ich an die Fernsehserie „Wunderbare Jahre“ oder Filme wie „Sommer ’42“. Mir ging es eher um bewusste Erinnerung, um einen Blick auf die Vergangenheit aus heutiger Perspektive. Also mit meinem jetzigen Verständnis der damaligen Ereignisse und auch der Narben, die davon geblieben sind, in meiner Persönlichkeit, aber auch in unserer Familie.

Haben Sie deswegen auch das so genannt Fronleichnam-Massaker, bei dem mehrere hundert friedlich demonstrierende Studenten ihr Leben verloren, zu einem zentralen Moment des Films gemacht?

Ja auch, denn das war damals eine Zeit, in der mir langsam, aber sicher klar wurde, dass es auch noch etwas jenseits der Blase gab, die mein kindliches Leben darstellte. Und das Massaker hat sich, wie vieles in jener Zeit, in das kollektive Gedächtnis der Mexikaner eingebrannt und ebenfalls eine Narbe hinterlassen. Mexiko ist ohnehin ein sehr vernarbtes Land. Und wir spüren heute, in den politischen und gesellschaftlichen Veränderungen, die das Land aktuell durchmacht, immer noch die Nachwirkungen der Ereignisse von vor 50 Jahren.

Sind Sie denn angesichts der persönlichen Nähe an „Roma“ anders herangegangen als an Ihre sonstigen Filme?

Tatsächlich verlief die Entstehung dieses Films komplett anders als bei allen anderen vorher. In der Regel bin ich unglaublich kontrolliert: Jeder einzelne Schritt meiner Arbeitsweise ist genauestens durchdacht, am Drehbuch wird wieder und wieder gefeilt. Ich habe immer Mitstreiter wie Guillermo Del Toro, Pawel Pawlikowski oder auch meinen Bruder Carlos an meiner Seite, die jede einzelne Seite lesen und mir konstant Feedback geben. Ich habe sogar mal einen Film nicht gedreht, weil Pawel zu viele Aspekte des Skripts in Frage gestellt hat! Auch wenn ich im Schneideraum sitze, brauche ich normalerweise diese konstante Beratung und zeige Guillermo oder Alejandro G. Iñárritu die unterschiedlichen Schnittfassungen. Und beim Dreh folge ich Tag für Tag einem ganz konkreten Plan und weiß ganz genau, was ich will.

Und dieses Mal?

Da schrieb ich schon das Drehbuch auf ganz ungewohnte Weise, wie einen freien Bewusstseinsstrom. Statt so kontrolliert wie möglich zu sein, wollte ich meinem Unterbewusstsein und meinen Erinnerungen freien Lauf lassen. Die Frau, auf der meine Protagonistin Cleo basiert, sollte letztlich – im übertragenen Sinne natürlich – vorgeben, wohin es geht. Plötzlich nämlich entdeckte ich ganz neue Seiten an ihr, die ich als Kind und Jugendlicher bei all meiner Liebe und Vertrautheit nie wahrgenommen hatte. Auch beim Drehen war alles anders als sonst, denn weder die Darsteller noch die Crew bekamen von mir das Drehbuch. Wir drehten in chronologischer Reihenfolge, und ich hatte nur jeden Morgen Gespräche mit den einzelnen Beteiligten, bei denen einige ihre Dialoge bekamen, andere nicht.

Klingt nach vorprogrammiertem Chaos!

War es auch, aber eben gewollt. Ich wollte so instinktiv wie möglich vorgehen und mich von den Momenten leiten lassen. Da ich fast ausschließlich mit Laien-Darstellern arbeitete, war das größtenteils auch gar nicht so schwierig, denn die kannten nichts anderes und gewöhnten sich entsprechend sofort an diese Methode. Nur Marina de Tavira, das Familienoberhaupt, kam als klassisch ausgebildete Schauspielerin mit der Arbeitsweise anfangs gar nicht klar. Die ersten Tage versuchte sie verzweifelt, die Szenen unter Kontrolle zu behalten. Bis sie dann irgendwann auch lernte, los- und sich treiben zu lassen.