Das Festival treibt Stars wie George Clooney und Julia Roberts über den roten Teppich. Derweil zeigen der britische Regisseur Ken Loach und der Rumäne Cristi Puiu, wie es in der Welt wirklich zugeht.

Cannes - Wenn die Stars im Festivalpalais vom Fotocall zur Pressekonferenz gebracht werden, müssen sie einen schmalen, mit Seilen abgesperrten Durchgang passieren. Hier warten Kameraleute und Fans oft stundenlang, um ein paar gute Bilder und Momente scheinbarer Nähe zu ergattern. 85 Minuten und etlichen unwürdigen Körpereinsatz investierte die Berichterstatterin, um einmal im Leben Auge in Auge mit Jodie Foster, Julia Roberts und George Clooney zu stehen, die beim 69. Festival außer Konkurrenz „Money Monster“ vorstellten. Die neue Regiearbeit von Foster ist ein Finanz-, Polit-, Medien- und Action-Thriller um Algorithmen und manipulierte Börsenkurse, also ziemlich viel auf einmal, dabei aber solides gutes Hollywood-Kino. Jodie Foster selbst ist bei aller Coolness von winziger Statur, im weißen Haute-Couture-Kleid verteilte sie Autogramme und freundliche Worte. Auch Julia Roberts ist kleiner, als man angesichts ihrer Leinwandpräsenz annehmen mag; sie erschien im hochpreisigen Oberkellner-Outfit, bestehend aus Weste und Anzughose. George Clooneys blendende Erscheinung schließlich kommt mit schlappen 1,70 Metern aus, wenn überhaupt. Das Gekreische war ohrenbetäubend.

 

Die 85 Minuten und blauen Flecken waren also gut investiert in einen Star-Realitätscheck. Noch besser angelegt waren die drei Stunden Lebens- und Laufzeit in Cristi Puius neuen Film. „Sieranevada“ gilt bereits als Palmen-Favorit dieses Festivals. Und das gab es hier ja schon öfter, dass man den Gewinner gleich zu Beginn des Wettbewerbs sah. Der 49-jährige rumänische Regisseur lässt seinen Film fast ausschließlich in einer leicht abgewohnten Mietwohnung spielen. Hier trifft sich eine große Familie zur Totenfeier, nachdem der Vater gestorben ist. Das erfährt man indes erst spät, nach viel Streit und Türenschlagen. Ständig wechseln die Figuren von Raum zu Raum, die Kamera lugt mal in ein Zimmer hinein, mal betritt sie es, um das Gespräch da drinnen zu bezeugen. In der Vielzahl der Personen und Themen ergibt sich ein derart komplexes Bild der rumänischen Gesellschaft heute, dass es einen einfach umhaut. Konflikte zwischen Altkommunisten und Monarchie-Anhängern, Frauen und Männern, Alten und Jungen, Wohlhabenden und weniger Kapitalkräftigen, Brüdern und Schwestern, Töchtern wie Söhnen und Vätern wie Müttern prägen das Geschehen. Ewig wird gekocht, aber man kommt nicht zum Essen über all den Rissen und Gräben, die sich durch diese Familie ziehen. Der Tisch wird gedeckt, dann zum Teil wieder abgeräumt. Man wagt kaum Luft zu holen, ist permanent gefesselt. War dieser erneute Beweis für das rumänische Kinowunder schon die Palme d’Or?

Ken Loach erzählt, wie das Sozialsystem einen kleinen Mann erniedrigt

Bestürzend und zwingend wirkt auch der neue Film des britischen Humanisten und Kämpfers Ken Loach. Viele Kritiker hatten beim Abspann Tränen in den Augen. „I, Daniel Blake“ erzählt von einem rechtschaffenen und großherzigen Mann, der ohne eigenes Verschulden in einem entmenschlichten Fürsorgesystem unter die Räder gerät. Nach einem schweren Herzinfarkt soll der Zimmermann Daniel Blake nach dem Willen der Ärzte keineswegs schon wieder arbeiten. Eine ebenso inkompetente wie bürokratische Gutachterin des medizinischen Dienstes ist jedoch anderer Meinung. In der Folge wird der fast 60-jährige Patient vom Jobcenter nicht nur zur Vollzeit-Arbeitssuche gezwungen, sondern auch immer wieder sanktioniert, etwa weil seine Bewerbungsnachweise „nicht gut genug“ sind. Ansprechpartner für ein Widerspruchsverfahren stellen sich ihrem Klienten nicht; das Ganze trägt zunehmend kafkaeske Züge. So wird Daniel Blake nicht nur wissentlich gedemütigt, er verarmt auch schnell. Wie schon viele ehrliche Leute vor ihm gibt er irgendwann auf – das Amt gewinnt letztlich. Mit gebotenem humanistischem Pathos klagen Ken Loach und sein langjähriger Drehbuchautor Paul Laverty einen inhumanen Staat an, der seine Bürger systematisch ihrer rechtmäßigen Ansprüche beraubt und damit materiell wie seelisch ruiniert. Ähnlichkeiten zu Deutschland sind keineswegs zufällig.

Wenn man dann das Kino verlässt, begegnen einem Soldaten in Tarnanzügen, die mit Kalaschnikows im Anschlag durch die Gassen von Cannes patrouillieren. Wer morgens frühzeitig zum ersten Film erscheint im Premierenkino Grand Théâtre Lumière, trifft noch auf die Bombensuchhunde, die in den Sitzreihen nach Sprengsätzen schnüffeln. Frankreich ist anhaltend traumatisiert durch die Terroranschläge der vergangenen Monate. Und das französische Kino im Wettbewerb an der Croisette? Es zeichnet sich durch visuelle wie erzählerische Exzentrik aus. Alain Guiraudie etwa mutet dem Publikum in „Rester Vertical“ geradezu offensiv primäre Geschlechtsmerkmale zu, und das kurz nach dem Frühstück. Eine leinwandfüllende Vagina, fast wie in Gustave Courbets seinerzeit berüchtigtem Gemälde „Der Ursprung der Welt“. Ein riesiger Hodensack, ein noch größerer erigierter Penis. Am meisten verstörten die Kritiker jedoch Szenen, in der live ein Kind geboren wird, mit allem dazugehörigen Schleim und Blut. Schon heißt es: „Der Film ist ein Skandal!“ Worauf gelassenere Festivalgäste fragen: Ein guter oder ein schlechter Skandal?“

Nun, er stellt nicht mal ein Skandälchen dar. „Rester Vertical“ ist eine durchaus obsessive Studie über die Macht von Sexualität; am Ende sieht sich der Protagonist von Wölfen umkreist. Bruno Dumonts neue Regiearbeit „Ma Loute“ ist hingegen eine in der Belle Époque angesiedelte Filmgroteske, in der eine proletarische Kannibalen-Familie, offiziell Muschelsammler, in einem Badeort im Norden Frankreichs an eine inzestuöse Industriellen-Sippe gerät. Währenddessen untersucht ein im Wortsinn aufgeblasener Kommissar das serienweise Verschwinden von Feriengästen. Im permanenten Ton schwer erträglicher Exaltiertheit und Hysterie, aber auch mit viel Situationskomik inszeniert, weist „Ma Loute“ den Regisseur Dumont aufs Neue als bösen Geist des französischen Kinos aus. Böse Geister gibt es derzeit allerdings genug. Die Welt braucht mehr gute wie Ken Loach.