Zum Abschluss des Filmfestivals Locarno sind der Regisseur Pedro Costa und seine Hauptdarstellerin Vitalina Varela mit goldenen Leoparden ausgezeichnet worden.

Locarno - Aufatmen war zum Abschluss des 72. Locarno Film Festivals unter Cineasten angesagt. Auch im ersten Jahr unter der künstlerischen Leitung der Französin Lili Hinstin ist das alteingesessene Festival im Tessin seinem angestammten Profil treu geblieben und gibt sich als Vorreiter eines ebenso anspruchs- wie kunstvollen, durchaus avantgardistischen Kinos, das in Sachen künstlerischer Ambitionen noch einen Schritt weiter geht als jene Filme, die gemeinhin in Cannes, Venedig oder auf der Berlinale laufen. Zumindest ist dies die Signalwirkung, die vom diesjährigen Gewinner des Goldenen Leoparden ausgeht, Pedro Costas „Vitalina Varela“.

 

Die Auszeichnung für den Portugiesen durch die Jury unter dem Vorsitz der französischen Filmemacherin Catherine Breillat, zu der auch die Berliner Regisseurin Valeska Grisebach gehörte, kam nicht wirklich überraschend. Weniger, weil Costa zu den bekanntesten Namen im diesjährigen Wettbewerb gehörte und etwa 2014 in Locarno bereits den Regie-Preis erhielt. Und auch nicht, weil Hinstin persönlich schon im Vorfeld des Festivals „Vitalina Varela“ in Interviews als persönlichen Favoriten und Meisterwerk gefeiert hatte. Sondern vor allem deswegen, weil der Film auch für die anwesenden Kritiker und übrigen Festivalgäste aus dem insgesamt interessanten, aber an Höhepunkten etwas armen Programm der neuen Leiterin weit herausstach.

Bedrückende Bilder aus einem Slum von Lissabon

Man könnte Costas Film über eine Frau, die von den Kapverden nach Portugal kommt, ein paar Tage nachdem ihr seit Jahren aus ihrem Leben verschwundener Ehemann dort beerdigt wurde, als Geistergeschichte bezeichnen. Allerdings würde das Wort „Geschichte“ womöglich Erwartungen hinsichtlich Plot oder konventioneller Erzählstrukturen wecken, die der Regisseur nicht zu erfüllen gewillt ist. Geisterhaft allerdings ist „Vitalina Varela“ in der Tat, so erstarrt, gebrochen und wortlos streifen die Hauptfigur und die Menschen, die ihr begegnen, durch einen Slum von Lissabon. Fast der komplette Film spielt nachts, gesprochen wird in dieser Düsternis wenig, und Formalismus hat für Costa oberste Priorität. Doch gerade dieser eher intellektuelle als emotionale Ansatz und die streng komponierten Bilder können eine beachtliche Faszination entwickeln. Genau wie Protagonistin Vitalina Varela, die den gleichen Namen trägt wie ihre Figur und den Preis als beste Darstellerin erhielt.

Der Spezialpreis der Jury ging an den Koreaner Park Jung-bum für „Pa-go“, eine Art Dorfkrimi über eine junge Waise. Für die beste Regie wurde der Franzose Damien Manivel für „Les enfants d’Isadora“ geehrt, eine etwas verkopfte Verneigung vor der Tanzikone Isadora Duncan. Regis Myrupu, ein Brasilianer indigener Abstammung, der nie zuvor vor einer Kamera gestanden hatte, durfte für „A Febre“ den Leoparden als bester Darsteller mit nach Hause nehmen. Das nüchterne, fast dokumentarische Spielfilmdebüt von Maya Da-Rin wurde koproduziert von Komplizen Film, der Produktionsfirma von Maren Ade, Janine Jackowski und Jonas Dornbach.

Der einzige deutsche Beitrag, „Das freiwillige Jahr“, geht leer aus

An „Das freiwillige Jahr“, dem einzigen deutschen Film im diesjährigen Locarno-Wettbewerb, war Komplizen Film nicht beteiligt, auch wenn Ades Ehemann Ulrich Köhler hier gemeinsam mit Henner Winckler Regie führte. Die beiden haben ihre Geschichte eigentlich fürs Fernsehen umgesetzt, nun wird sie demnächst zum Glück wohl doch auch bei uns auf die Leinwand kommen. Denn der Schwung und die ordentliche Portion Humor, mit denen Köhler und Winckler in diesem Drama vom durchaus komplexen, am Beginn eines neuen Lebensabschnitt stehenden Verhältnis zwischen dem allein erziehenden Urs und seiner 19-jährigen Tochter Jette erzählen, in dem Kümmern und Kontrolle sowie Aufbruch und Abhängigkeit sehr nah beieinander liegen, sind im deutschen Kino keine Selbstverständlichkeit. Für einen Preis allerdings hatte der Film der Jury am Ende womöglich, trotz einer verweigerten Auflösung am Schluss, zu wenig Ecken und Kanten.

Auch jenseits von „A Febre“ im Wettbewerb und Komplizen-Veteranin Grisebach in der Jury stand das diesjährige Festival durchaus im ganz im Zeichen der Berliner Firma, die vor 20 Jahren von Ade und Jackowski noch an der Hochschule für Film und Fernsehen in München gegründet wurde. In der Reihe Fuori concorso lief mit „Giraffe“ eine weitere Produktion von Komplizen Film, eine sehr detaillierte, bisweilen durchaus theoretisch konzipierte Beobachtung über Vergänglichkeit und Einsamkeit auf der dänischen Insel Lolland im Kontext der Dauerbaustelle zum stockenden Fehmarnbelttunnel-Projekt. Die Ziel- und Stilsicherheit, mit der die dänische Wahl-Berlinerin Anna Sofie Hartmann dabei hinter der Kamera auf dem schmalen Grad zwischen Dokumentation und Fiktion wandelt, ist bemerkenswert.

Komplizen Film erhält einen Sonderpreis

Vor allem aber wurde Komplizen Film gleich zu Beginn des diesjährigen Festivals mit dem Premio Raimondo Rezzonico, ausgezeichnet, einem Sonderpreis für unabhängige Produzenten. Ade, Jackowski und Dornbach, die längst nicht mehr nur Ades Filme oder Arbeiten von deutschen Regisseuren wie Grisebach und Köhler produzieren, sondern zuletzt auch für Sebastián Lelios Oscar-Gewinner „Eine fantastische Frau“ oder den diesjährigen Berlinale-Sieger „Synonymes“ des Israeli Nadav Lapid verantwortlich zeichneten, reihen sich damit ein in eine Reihe von Schlüsselfiguren des weltweiten Independent-Kinos wie Christine Vachon, Arnon Milchan, Office Kitano oder Ted Hope, die den Preis in der Vergangenheit erhielten. Im September ist mit „Skylines“ bei Netflix die erste Serie der Firma zu sehen.

„Wir freuen uns über diesen Preis ganz besonders, weil er auch eine Auszeichnung für die Zusammenarbeit von uns dreien ist“, sagte Jackowski zwei Tage nach der Ehrung im Interview. „Die ist über die Jahre immer nur weiter gewachsen und für uns unglaublich wichtig. Arbeit nimmt so viel Zeit in unserem Leben ein, dass wir die dann wirklich mit Menschen verbringen wollen, mit denen wir gerne zusammen sind. Zwischen uns dreien gibt es auf allen Ebenen ein enorm großes Vertrauen, und dass das von außen gesehen und anerkannt wird, ist einfach toll.“ Außerdem, so Dornbach, mache der Preis Mut, auch in den schwierigen Zeiten, die die Filmbranche durchmache, weiter auf dem Weg zu bleiben, den man mit den Komplizen-Filmen bislang gegangen sei.

Patrick Vollrath präsentierte auf der Piazza Grande seinen erste Langfilm „7500“

Nicht unerwähnt bleiben soll mit Patrick Vollrath allerdings noch ein deutscher Regisseur, dessen Ästhetik und Vision mit dem Komplizen-Kino eher wenig zu tun haben. Vor drei Jahren war der Niedersachse für den Kurzfilm-Oscar nominiert, nun präsentierte er auf legendären, 8000 Plätze umfassenden Piazza Grande (die in diesem Jahr mehrmals von heftigem Regen heimgesucht wurde und zumindest bei Tarantinos „Once Upon a Time . . . in Hollywood“ komplett ausverkauft war) seinen ersten Langfilm „7500“.

Für den komplett in einem Cockpit spielenden Thriller konnte er mit Joseph Gordon-Levitt einen Hollywood-Star als Hauptdarsteller gewinnen, seine Münchner Produzenten von Augenschein Filmproduktion haben längst den internationalen Mainstream im Blick. Vollrath selbst leistet gerade mit Blick auf das beschränkende Setting Beachtliches, vor allem die erste Filmhälfte ist meisterliches Genre-Kino, wie man es so eindringlich nicht alle Tage erlebt. Und auch wenn „7500“ gegen Ende in Sachen Spannung und Emotionalität ein wenig die Fäden verliert, darf man davon ausgehen, dass von Vollrath in den kommenden Jahren noch einiges zu erwarten ist.