Das Kino feiert sich selbst zum Auftakt auf dem Lido: In Damien Chazelles „La La Land“ singen und tanzen Emma Stone und Ryan Gosling wie in den Goldenen Zeiten des Musicalfilms. Wim Wenders hat nach einer Vorlage Peter Handkes verfilmt, wie Zeilen eines Autors in Echtzeit zum Leben erwachen.

Venedig - Gleich zu Beginn erntete „La La Land“ in Venedig Szenenapplaus: Die Sonne brennt auf eine sich stauende Blechlawine, doch echte Hollywoodianer lassen sich davon nicht die Laune verderben – alle verlassen ihr Gefährt und legen auf dem Autobahnzubringer eine kesse Sohle aufs Parkett.

 

Ein Mordsspaß ist Damien Chazelles Hollywood-Hommage, und sie kommt atmosphärisch genau richtig zur Eröffnung – denn beim Filmfestival von Venedig herrscht in Folge des Terrors höchste Sicherheitsstufe. Polizei scheint allgegenwärtig, schwer bewaffnete sichern die Kinosäle. Wie wohltuend wirken da die Illusionen, Filmplakate, erlesene Kostüme, Kinozitate, ein Filmriss im Rialto, Sternegucken im Griffith-Observatorium, selbst unsanfte Landungen auf dem harten Boden des Showbusiness.

Herzzerreißend lässt Emma Stone den Schauspiel-Traum ihrer Mia platzen, wenn ihre tellergroßen Augen sich mit Tränen füllen. Ryan Goslings Jazzpianist Sebastian verdient sein Geld mit Weihnachtsliedern und wird aus einem Club geworfen, weil er sich gedankenverloren von „Jingle Bells“ zu Thelonius Monk verirrt. J. K. Simmons, als sadistischer Musiklehrer in Chazelles Debüt „Whiplash“ (2014) Oscar-prämiert, spielt den Club-Besitzer.

Die Figuren hinterfragen ihre Bereitschaft zum Verrat

Man kann den Spielverderber-Begriff Eskapismus kaum beiläufiger, ironischer und spielerischer in Bilder fassen als Chazelle. Alles ist schmissig choreografiert und mit Bigband-Sound orchestriert, der ins Mark fährt. Und Ryan Gosling, Mister Unbewegt vom Dienst, singt und tanzt mit Grazie und macht auch am Klavier eine gute Figur.

Dabei ist „La La Land“ mehr als eine Verneigung vor Hollywood, eine Reflexion über die Aura der Stars und das Wesen des Kinos als Traum von einem verpassten, aber vielleicht möglichen Leben. Die beiden Hauptfiguren hinterfragen ihre Vision von ihrer Kunst, ihre Lebenshoffnungen, ihre Liebe zueinander, ihre Bereitschaft zum Verrat.

Ganz anders gelagert: Wim Wenders‘ Verfilmung von Peter Handkes „schönen Tagen von Aranjuez“. Ein roter Apfel liegt auf dem Schreibtisch von Jens Harzer, dem Alter Ego des Autoren Handke, dessen Zeilen in Echtzeit zum Leben erwachen in einem Paar, das ebenfalls mit einem roten Apfel spielt.

Ist Gott ein Autor?

Wenders hat Handkes Text komplett erhalten, was dazu führt, dass der Film trotz 3-D-Technik in der Hauptsache abgefilmtes, sprachlastiges Theater – und die Selbstreflexion eines alternden Mannes über die Liebe. Dass er Film dennoch einen gewissen Zauber entfaltet, ist zwei Dingen zu verdanken: dem ausgezeichneten Ensemble (als Paar: Reda Kateb und Sophie Semin), das lässig die Beine über die Lehne des Gartenstuhls legt und den gedrechselten Sätzen Leben einzuhauchen versteht. Und dem Anwesen in der Nähe von Paris, auf dem Peter Handke höchstselbst in einer kleinen selbstironischen Volte als grauhaariger Gärtner eine Leiter durch die Büsche schleppt.

Bei diesem Witz bleibt es. Der Autor ist Gott, Gott ist ein Autor, diese Theologie des literarischen Hohepriesters Handke durchweht Wenders‘ Film, der auf den Straßen des von der Morgensonne durchfluteten Paris beginnt, um im nächsten Bild auf die Wurlitzer-Orgel im Hause des Schriftstellers zu blenden, aus der Musik von Nick Cave dringt. Über allem liegt der Schleier melancholischer Schönheit und Anmut – ein Film wie ein Spätsommertag mit gut gealtertem französischen Rotwein.

„Die stillen Tage von Aranjuez“ zählt nicht zu Wenders‘ großen Filmen; eher wirkt er wie ein Freundschaftsdienst für Handke. Diesen aber versieht er mit spürbarer Sorgfalt und Liebe. Der Titel bezieht sich auf Schiller, der am Ende zur Gänze zitiert wird: Die schönen Tage von Aranjuez gehen zu Ende. In solchen Momenten spürt man, worum es wirklich geht, und ist berührt: um Vergänglichkeit nämlich und die Flüchtigkeit der Erinnerung, gegen die sich der Autor mit seinem Schreiben wehrt.

Derek Cianfrance mutet seinen Zuschauern viel zu

Nach „La La Land“ war dies der zweite Kunstfilm. Erst Kino, dann Literatur – die Filmfestspiele am Lido sind zumindest in ihren Eröffnungstagen weit entfernt von der europäischen, auch der globalen Wirklichkeit mit Flüchtlingskrise, Terror und politischem Populismus. Es scheint fast, als pflegte das Festival ein cineastisches Gegenprogramm, das, wenn nicht in die Kunst, in Vergangenheit und Zukunft entwischt.

In Derek Cianfrances „The Light Between Oceans“ kehrt Michael Fassbender als Veteran des Ersten Weltkriegs nach Australien zurück, ein stoischer, wortkarger Mann, der viel getötet hat und nun von sich behauptet, nichts mehr fühlen zu können. Umso stürmischer kehrt die Leidenschaft zurück, als Alicia Vikander mit ihm zum Leuchtturm auf einem gottverlassenen Eiland ziehen will. Kinder können die beiden nicht bekommen, welches Wunder ist es da, dass eines Tages ein Boot angespült wird, in dem ein Baby neben seinem toten Vater liegt.

Cianfrance („The Place Beyond the Pines“) mutet den Zuschauern einige solcher Zufälle zu. Er möchte das realistisch-psychologische Porträt eines traumatisierten Mannes zeichnen, seiner Fehlentscheidungen und der daraus resultierenden Schuld. Doch indem er die haarsträubendsten Wendungen in Kauf nimmt, verrät er seine an sich interessante Geschichte an ein quasireligiös verbrämtes Glaubensbekenntnis.

Ein Krieg der Worte statt der Welten

Der Kanadier Denis Villeneuve („Prisoners“) hat „Arrival“ mitgebracht an den Lido, einen linguistischen Science-Fiction-Thriller und den bislang stärksten Wettbewerbsbeitrag. Villeneuve arbeitet derzeit an der Fortentwicklung des „Blade Runner“, der Zukunftsapokalypse schlechthin, und geht auch in „Arrival“ volles Risiko.

Außerirdische in Form überdimensionierter Tintenfische schreiben da kreisrunde Zeichen auf eine Glasscheibe, Amy Adams spielt eine Sprachwissenschaftlerin, die diese deuten soll – in einem Krieg der Worte statt der Welten, wenn man so will. Das hätte akademisch ausfallen können, doch Villeneuve setzt seinen Film derart intelligent und spannungsvoll als Wissenschaftskrimi mit esoterisch-emotionaler Unterfütterung in Szene, dass einem die Tintenfische in ihren Raumschiffen wirklich ans Herz wachsen und Amy Adams ohnehin.

Über den Umweg in die Zukunft kommt Venedig mit Villeneuve dann doch in der Gegenwart an. Auch 2016 geht es darum, wie die Kulturen einander bewerten. Mit der Sprache wäre ein Anfang gemacht.