Die Goldene Palme für Ruben Östlunds schwedischen Film „The Square“ ist so umstritten wie die 70. Cannes-Ausgabe selbst – anders Diane Kruger hochverdiente Ehrung als beste Darstellerin.

Cannes - Anspruch und Wirklichkeit fallen in der Kunst nicht immer zusammen. Das gilt wohl auch für das minimalistische Quadrat, das dem schwedischen Cannes-Gewinner-Film „The Square“ seinen Titel gibt, Ruben Östlunds Satire über Kunstbetrieb und politische Korrektheit. Es misst nur wenige Quadratmeter, leuchtet im Rot billiger LED-Streifen, doch eine Schrifttafel erklärt es zu einem „heiligen Ort des Vertrauens“: „In seinem Innern haben wir alle die gleichen Rechte und Verpflichtungen.“

 

Ebenso emphatisch preist der Museumskurator im Mittelpunkt der Satire seinen Besuchern das Konzeptkunstwerk an. Er ist die Verkörperung eines Kunstexperten, wie es sie tatsächlich nicht selten in leitenden Positionen in den Musentempeln zu finden gibt: Kunst ist diesen Vermittlern in erster Linie eine Illustration jener Theorien zu sein, die gerade besonders angesagt sind – und der Ideale sogenannter „politischer Korrektheit“. „The Square“ erzählt vom Scheitern eines solchen Idealisten an den eigenen Idealen. Als er aus Hilfsbereitschaft Opfer eines Tricksdiebstahls wird, verliert er für einen Augenblick den Respekt, den er in der Kunst so hoch hält. Das Genick bricht ihm schließlich eine geschmacklose Werbekampagne.

Kunst und Wirklichkeit fallen auseinander

Der Zweistunden-Zwanzigminutenfilm ist fraglos einer der ungewöhnlichsten Gewinner in der Geschichte des Festivals. Man kann sich fragen, ob das Thema der Satire, also die bürgerliche Kulturszene und ihre Selbstdarstellung, wirklich eine so epische Abarbeitung verdient. Oder ob es Östlunds Film nicht am Ende selbst so ergeht wie dem angepriesenen Kunstwerk, bei dem Anspruch und Wirklichkeit auseinanderfallen.

Gewiss, Östlund hat Recht, wenn er einen Museumsbetrieb kritisiert, der sich zwar mit sozialen Themen schmückt, aber den Kontakt zu den unteren Schichten verloren hat. Doch die Künstler opfert er dabei gleich mit, denn er bedient zugleich die populistische Kritik an einer angeblich unsinnlichen Konzeptkunst – ein Vorurteil, das schon zu Zeiten Joseph Beuys’ in den 80er Jahren abgestanden war.

Östlunds Attacke auf die Moralwächter in der Kultur dürfte auch eine autobiografische Komponente haben: 2011 wurde ihm in Schweden Rassismus vorgeworfen, weil er in seinem Film „Play – Nur ein Spiel?“ von einer afrikanischen Kinderbande erzählte, die weiße Mittelschichtkinder bestahl. „Ich wollte einen provozierenden Film machen“, erklärte Östlund. „Selbst in Schweden, einst eine der egalitärsten Gesellschaften der Welt, haben wachsende Arbeitslosigkeit und die Angst vor Statusverlust zu gegenseitigem Misstrauen geführt und zu einem Misstrauen gegenüber der Gesellschaft.“

Was ist wichtiger: politische Absicht oder künstlerische Qualität?

Auch das bedeutendste Filmfestival der Welt sah sich in seiner Geschichte immer wieder mit der Frage konfrontiert, was ihm wichtiger sei: die politische Absicht oder die ästhetische Qualität? Im letzten Jahr gab man Ken Loachs bitter-scharfem Sozialdrama „Ich, Daniel Blake“ den Vorzug gegenüber Maren Ades künstlerisch originellerer Farce „Toni Erdmann“. Großartig waren beide Filme. Nun hat sich Pedro Almodóvars Jury für einen anspruchsvollen, aber künstlerisch unvollkommenen Film entschieden, dessen Thema ihr offensichtlich ein Anliegen war. Leicht gemacht hat es sich Östlund mit seinem Film jedenfalls nicht. Und man muss anerkennen: Er verteidigt das Kino als einen Ort wichtiger kultureller Fragestellungen. Was könnte sich Cannes, das manchmal im Glamour zu versinken droht, besseres wünschen?

Einfacher war da die Entscheidung für Diane Kruger als beste Hauptdarstellerin. Der Triumph war so erhofft wie verdient. Auch in Fatih Akins politisch so wichtigem Film über die NSU-Morde, „Aus dem Nichts“ mag nicht jede Szene überzeugen. Krugers Leistung aber ist makellos, als Witwe eines Mordopfers wächst sie über sich hinaus. In Frankreich und Hollywood, wo sie ihre bekanntesten Rollen spielte, wird man staunen, welche emotionale Wucht sie in ihrer ersten deutschsprachigen Hauptrolle erreicht. Und wie sich ein wichtiges Thema durch ihr Spiel mit Emotion in Kunst verwandelt.

Diane Kruger hat der deutschen Filmindustrie rein gar nichts zu verdanken

Wer nun aber wie manche Medien Diane Krugers Auszeichnung als einen Sieg für Deutschland feiert, nur weil sie aus Niedersachsen stammt, vereinnahmt eine Künstlerin, die der deutschen Filmindustrie rein gar nichts zu verdanken hat. Ihre erstaunliche Weltkarriere hat sie selbst gestemmt. Ihre ersten Filmrollen fand sie in Paris, als sie dort als Model arbeitete. Und als Wolfgang Petersen sie 2004 für „Troja“ nach Hollywood holte, hatte sie sich bereits im französischen Kino einen Namen gemacht. Auch ihre Rolle bei Fatih Akin hat sie sich übrigens selbst erobert: „Sie hat mich 2005 in Cannes angesprochen, als ich dort eine Party für meinen Film ‚Crossing the Bridge’ feierte“, enthüllte Akin in Cannes. „Sie sagte, sie würde gerne mal bei mir mitspielen. Das habe ich mir gemerkt.“

Auch in anderen Kategorien wurden große Stars geehrt: Joaquin Phoenix spielt auf unvergesslich zurückhaltende Weise einen Killer in „You Were Never Really Here“, dem überraschenden letzten Trumpf des Festivals. Der Schottin Lynne Ramsay gelingt in einer kunstvollen Komposition aus Andeutungen, Visionen und Rückblenden der originellste Film des Wettbewerbs – ein tiefschwarzer, wunderschöner Genrefilm. Und auch Nicole Kidman, die in Sofia Coppolas Südstaatendrama „The Beguiled“ einen der weiteren ihrer vielen Triumphe feierte, wollte man nicht mit leeren Händen gehen lassen. Sie erhielt einen Spezialpreis, und Coppola gewann höchstverdient als Regisseurin.

Weit weniger Glücksgriffe als erhofft

Anspruch und Wirklichkeit – wie beim Thema des Gewinnerfilms passte das auch beim Programm der 70. Cannes-Aausgabe nicht immer zusammen. Es waren weit weniger Glücksgriffe zu finden als erhofft. Wie schon die Eröffnung enttäuschte auch der Abschluss, Roman Polanskis Thriller „D’après une histoire vraie“: Nach Delphine de Vigans Roman erzählt der Altmeister von einer gefeierten Schriftstellerin (Emmanuelle Seigner) und ihrer falschen Freundin (Eva Green), einer Ghostwriterin und Identitätsdiebin. Von Polanskis Meisterschaft in der Arbeit mit wenigen Figuren und beklemmenden Schauplätzen ist nichts zu spüren. Selten hat ein Psycho-Thriller so viele potenzielle Höhepunkte ungenutzt verstreichen gelassen, und er geht so spannungslos zu Ende wie eine Fernsehserie, die vor der Zeit vom Sender aus dem Programm genommen wird.

Das Fernsehen, dieser ungeliebte kleine Bruder des Kinos, und das Online-Streaming, der verhasste Enkel, waren in Cannes in aller Munde. Ersteres feierte sich selbst mit David Lynchs genialischer „Twin Peaks“-Fortsetzung: Ein Triumph des surrealen Erzählens und eine Verbeugung vor der Magie des Serienklassikers „Twilight Zone“. Letzteres zeigte sich in Bestform mit Noah Baumbachs hinreißender Künstlerkomödie „The Meyerowith Stories: New and Selected“. Gleichwohl hatte Almodóvar schon vorab erklärt: Eine Goldene Palme sei für eine reine Internetausstrahlung nicht zu holen. Was mag das Festival daraus für die Zukunft lernen?