Carla Simón, Natalia López, Claire Denis, Ruth Beckermann, Meltem Kaptan: Unter den Ausgezeichneten der diesjährigen Berlinale sind viele Frauen. Und die überzeugten die Jury vor allem mit emotionalen Geschichten.

Berlin - Jury-Entscheidungen bei einem Filmfestival bringen immer das Potenzial für Überraschungen und Kontroversen mit. Doch es kommt auch vor, dass am Ende tatsächlich ein Film gewinnt, der auch von Kritik und Publikum gefeiert wurde und seine Auszeichnung uneingeschränkt verdient. So kam es am Mittwoch zum Abschluss der Berlinale, wo der Goldene Bär an den Film „Alcarràs“ der spanischen Regisseurin Carla Simón ging.

 

Der Film hatte erst am Tag zuvor Weltpremiere gefeiert und sich zum Festivalende als Favorit etabliert, sicherlich auch, weil Simón darin zweierlei vereint. Einerseits das Untersuchen des Privaten, der Blick auf Familienstrukturen und Generationsunterschiede, der im diesjährigen Wettbewerb präsent wie lange nicht war. Und andererseits ein Verweisen auf politische und gesellschaftliche Themen und Konflikte, die weit über die heimische Sphäre hinausreichen.

Große Gefühle ohne Kitsch

Offensichtlich gefielen auch der Jury um den Vorsitzenden M. Night Shyamalan die Wärme und das Feingefühl Simóns beim Erzählen schmerzhaft-komplizierter Veränderungsprozesse, vor denen ihre von Laien verkörperte Protagonistinnen und Protagonisten nicht nur als Großfamilie, sondern auch als landwirtschaftlicher Kleinbetrieb im Angesicht von Dumpingpreisen im Obstanbau und Europas unersättlichem Stromhunger stehen.

Anders als im vergangenen Jahr der Goldene Bär für Radu Judes „Bad Luck Banging or Loony Porn“ oder in Cannes die Palme für „Titane“ von Julia Ducournau ist die Auszeichnung von „Alcarràs“ nun keine für mutiges Kino, erzählerische Experimente oder künstlerische Innovationen. Erfreulich ist sie trotzdem, weil der Film ungemein gefühlvoll, aber nie sentimental, und klug, ohne besserwisserisch zu sein, inszeniert ist – und als Gesamtpaket in diesem sehenswerten, aber nicht herausragenden Wettbewerb am meisten überzeugte. Simón ist damit nach Ducournau in Cannes und Audrey Diwan mit „Das Ereignis“ in Venedig die dritte europäische Regisseurin in Folge, die mit ihrem jeweils zweiten Spielfilm eines der großen A-Festivals gewinnen konnte.

Sie war außerdem nicht die einzige Filmemacherin, die auf der Berlinale Eindruck hinterließ. Zwar ging der Große Preis der Jury an den koreanischen Festival-Dauergast Hong Sangsoo für seinen 27. Spielfilm „So-seol-ga-ui yeong-hwa“ über die Begegnung einer Schriftstellerin und einer Schauspielerin, doch den Silbernen Bären für die Beste Regie durfte Claire Denis für ihr Beziehungsdrama „Avec amour et acharnement“ mit nach Hause nehmen; die erste große Festivalauszeichnung in einer über 30-jährigen Karriere. Den Preis der Jury erhielt die mexikanische Regiedebütantin Natalia López Gallardo für „Robe of Gems“, einer von vielen Filmen in diesem Jahr, in dem es um Familien- und Gewaltstrukturen, Abschiede und Existenzen abseits der Metropolen ging. Auch der Hauptpreis in der Nebenreihe Encounters ging an eine Frau, die Österreicherin Ruth Beckermann, für ihren experimentellen Dokumentarfilm „Mutzenbacher“.

Zwei Bären für Film über Kurnaz

Als vielleicht größte Überraschung der Bären-Verleihung entpuppte sich ausgerechnet Andreas Dresens „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“, der trotz seiner politischen Geschichte als Komödie daherkam und von der Presse durchwachsen aufgenommen wurde. Die aus Nordrhein-Westfalen stammende Komikerin und Moderatorin Meltem Kaptan wurde für ihren ersten großen Kinoauftritt prompt mit dem Silbernen Bären für die beste schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle geehrt. Allzu viele Einwände mag man dagegen nicht erheben, erweckt Kaptan doch ihre als Feel-Good-Heldin bestens geeignete Protagonistin zwar nicht immer subtil, aber ungemein liebevoll, witzig und warmherzig zum Leben. Der Drehbuch-Bär für Laila Stieler zum gleichen Film hätte aber vielleicht nicht auch noch sein müssen, zumal dafür andere preiswürdige Werke wie Mikhaël Hers’ „Les passagers de la nuit“, die exzentrische Romanze „A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe“ von Nicolette Krebitz oder „La ligne“ der Schweizerin Ursula Meier dafür leer ausgingen. Immerhin eine lobende Erwähnung ging an Meiers Landsmann Michael Koch für den eindrucksvollen „Drii Winter“.

Zum offiziellen Abschluss der Berlinale (die mit Publikumstagen noch bis Sonntag weitergeht) wurden Corona-Zahlen bekannt gegeben. Fast 11 000 Tests wurden vom 10. bis 16. Februar an den Teststationen des Festivals durchgeführt, davon seien 128 positiv ausgefallen. Allzu aussagekräftig sind diese Angaben allerdings nicht, da es jedem freistand, sich anderswo in der Stadt testen zu lassen. Doch es klingt, als sei die umstrittene Berlinale unter Pandemie-Bedingungen nicht nur mit erfreulichen Entscheidungen zu Ende gegangen, sondern auch mit einem blauen Auge davongekommen.

Auswahl der Gewinner

Goldener Bär für den besten Film
 „Alcarràs“ (Spanien) von Carla Simón.

Silberner Bär/Großer Preis der Jury
 „So-seol-ga-ul yeong-hwa“ („The Novelist’s Film“) von Hong Sangsoo (Südkorea).

Silberner Bär/Preis der Jury
„Robe of Gems“ (Mexiko) von Natalia López Gallardo.

Silberner Bär für die beste Regie
Claire Denis für „Avec amour et acharnement“ (Frankreich).

Silberner Bär für die beste schauspielerische Leistung/Hauptrolle
Meltem Kaptan in „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ von Andreas Dresen (Deutschland).