Die 75. Filmfestspiele von Venedig bieten preisverdächtige Beiträge von Yorgos Lanthimos und Alfonso Cuarón, vergnügliche Westernvariationen von Joel und Ethan Coen.

Venedig - Zu Mittag beziehen die ersten Autogrammjäger und Fans Stellung vor dem altehrwürdigen Festivalpalast, der seit Jahren neu gebaut werden soll. Zu den Querelen, die in diesem Zusammenhang die Gemüter der verantwortlichen Politiker und Kulturschaffenden erhitzen, kommen die fehlenden finanziellen Mittel. Also begnügt man sich mit kleinen Renovierungsarbeiten und verpasst der blätternden Fassade regelmäßig einem frischen weißen Anstrich. Eine niedrige Mauer trennt die Schaulustigen bei den Filmfestspielen von Venedig mit ihren unvermeidlichen Smartphones vom Roten Teppich, auf dem abends ab 19 Uhr das Schaulaufen der Stars beginnt. Schirme aller Größen haben die Profis zum Schutz vor der gleißenden Sonne dabei, Getränke – und manche sogar Schilder mit ihren Namen, die sie an „ihrem“ Platz ablegen, sollte ein Gang auf die Toilette nötig sein. Heiß erwartet wurden gestern Abend Emma Stone, die als Polizistin der TV-Serie „Broadchurch“ berühmt gewordene Olivia Colman und Nicholas Hoult, den jungen Marvel-Fans als „Beast“ aus „X-Men: Apocalypse“ bekannt.

 

Die drei sind – neben Rachel Weisz, die nicht zur Premiere anreiste – die Protagonisten von „The Favourite“, dem ersten Historienfilm von Yorgos Lanthimos („The Killing of a sacred Deer“), in dem viele seiner griechischen Landsleute den neuen Theo(doros) Angelopoulos („Landschaft im Nebel“) zu erkennen glauben. An den Hof von Königin Anne (1665–1714), der letzten Regentin des Hauses Stuart, geht es. Um die komplizierte Beziehung der Monarchin (Colman) zu zwei durchtriebenen, ehrgeizigen Frauen – ihrer engen Freundin und Beraterin Lady Sarah (Weisz) sowie deren verarmter Cousine, der Kammerzofe Abigail (Stone), die sozial aufsteigen will – kreist die Handlung, die sich mit dem Wort Palastintrige bestens zusammenfassen lässt. Ränke werden geschmiedet, Machtkämpfe ausgefochten, Enten- und Hummerrennen ausgetragen, ein nackter Adeliger wird zum Gaudium mit Blutorangen beworfen. Erlesen ist dieser gallige, hoch dramatische (Liebes-)Film ausgestattet, der streckenweise an eine Schlafzimmerfarce – mit globalen Konsequenzen – erinnert. Auf analogem Filmmaterial wurde größtenteils bei natürlichem Licht gedreht, die Nacht wird – analog zu Stanley Kubricks „Barry Lyndon“ – (fast) nur von Kerzen erleuchtet. Eine schauspielerische Tour de Force liefern die drei gleichwertigen Hauptdarstellerinnen ab, die sich verwegen-elegant kostümiert derbster Sprache bedienen, derweilen Robbie Ryan („American Honey“) für seine Kamera bevorzugt ausgefallene Winkel und extreme Perspektiven wählt.

Erste Stimmen fordern den Hauptpreis für Yorgos Lanthimos’ „The Favourite“

Schon hört man erste Stimmen, die hier einen Hauptpreis fordern – genauso wie für „ROMA“, Alfonso Cuarós bis dato persönlichste Arbeit. Nach Harry Potters „Askaban“-Abenteuer, „Gravity“ und dem Oscar-Gewinn kehrt er in seine Heimat, ins Titel gebende Viertel von Mexiko-Stadt, zurück, um eine teils autobiografische (Familien-)Geschichte zu erzählen. Aus der Perspektive der Dienstmagd Cleo (überragend: die Laiendarstellerin Yalitza Aparicio) schildert er den Alltag einer Mittelklassefamilie. Der Gatte hat die Frau und vier Kinder sitzenlassen, auf den Straßen kommt es 1970/71 zu politischen Tumulten, die Studenten demonstrieren, die Auseinandersetzungen gipfeln im berühmt-berüchtigten Corpus Christi- Massaker, verantwortet von der seitens der Regierung unterstützten paramilitärischen Gruppe namens „Los Halcones“ („Die Falken“). 108 (!) Tage wurde in kontrastreichem Schwarzweiß gefilmt, als Hauptschauplatz hat der Regisseur – zugleich (exzellenter) Kameramann, Produzent und Drehbuchautor – die mehrstöckige Wohnung seiner Kindheit nachbauen lassen, zwecks Ausstattung sich einzelne Stücke noch existierenden Mobiliars von Verwandten ausgeliehen. Ein Herzensprojekt, ein Zeitzeugnis, bis ins kleinste Detail perfekt gestaltet – inklusive unauffälliger visueller Effekte und einem überragenden Sounddesign, das besonders in einer finalen, beinahe tragisch endenden Meerszene zum Tragen kommt.

Bitterböse, schräg, voller Sprachwitz ist „The Ballad of Buster Scruggs“, eine Netflix-Produktion, inszeniert und geschrieben von Joel und Ethan Coen. Nach ihrem Pulverdampf-Hit „True Grit“ haben sich die ewigen Kinoanarchisten wieder auf Western-Territorium begeben, sich in einer sechsteiligen Serie – auf dem Festival läuft die 133 Minuten lange Spielfilmfassung – mit verschieden Aspekten des „Wilden Westen“ auseinandergesetzt. Tim Blake Nelson glänzt als singender Cowboy im schneeweißen Outfit, der schließlich in Sachen Showdown seinen schwarz gewandeten Meister findet und mit Engelflügeln gen Himmel fährt. Mordlüsterne Rothäute, brave Siedler, Wagentreck, Kopfgeldjäger, Goldsucher, Saloon, leichte Mädchen, Lynchjustiz: alles da. Launig jonglieren die Brüder mit den Genreversatzstücken. Eine Fingerübung, ein routiniert umgesetzter Spaß, unterhaltsam, vergnüglich. Mehr nicht.